Es blieb nur ein rotes Segel
tat einen heiseren Schrei, taumelte zurück, und ehe er an Gegenwehr dachte, war das kleine Ungeheuer im Haus und trippelte die Holztreppe hinauf.
Man kann wirklich nicht behaupten, daß Rosalia Antonowna eine schreckhafte Frau war. Sie war fähig, nachts allein durch einen verfilzten Wald zu gehen, und es war fast sicher, daß die Gespenster eher vor ihr flüchteten, als daß sie einen Schritt rückwärts tat. Aber als es jetzt an der Tür höflich klopfte, als sie aufging und der Zwerg ins Zimmer trat, schlug eine Riesenfaust auf Rosalias Herz.
Sie riß den Mund auf, wich an die Rückwand zurück, bekreuzigte sich mehrmals, fiel dann auf die Knie und begann zu schreien.
»Herr, erbarme dich meiner! Ich wußte es – ich bin eine Sünderin, Herr! Nimm mich gnädig auf …«
Der Zwerg blieb an der Tür stehen. »Madame«, sagte er höflich und seine Stimme klang melodisch und gar nicht nach Höllengeheul …
In Rosalia wallten Nebel. Der Teufel nennt sie Madame? Spricht man beim Satan jetzt auch französisch? Sie wagte es, die Augen zu öffnen und schlug zur Sicherheit noch ein Kreuz.
»Was befehlen Euer Gnaden?« stammelte sie.
»Ich bin der Leibzwerg und Narr des Großfürsten Nikolai Alexandrowitsch, des Zarewitsch«, sagte das Ungeheuer. »Mein Name ist Mustin Fedorowitsch Urasalin. Beruhigen Sie sich doch, Madame. Stehen Sie auf! Ich bin nicht beleidigt, wenn ich Ihnen nicht gefalle. Ich bin ja auch nicht beleidigt, daß Sie normal aussehen. Sind Sie nun in der Lage, mich zu verstehen?«
»Wie Sie wollen, Mustin Fedorowitsch.« Rosalia Antonowna erhob sich von den Knien, blieb aber vorsichtshalber an der Wand stehen. »Sie … Sie sind wirklich – nur ein Hofnarr?«
»Sehe ich nicht so aus?« Mustin, der Zwerg, hüpfte auf einen Stuhl. Es sah aus, als hocke sich eine Spinne mit einem riesigen Kopf auf das Möbelstück. »Ich kann auch lustig sein. Ich kann Purzelbäume schlagen, Tierstimmen nachäffen, auf Grashalmen blasen und – wenn es verlangt wird – mich auch in Krämpfen winden und weissagen. Ich kann alles, was ein Idiot können muß, um die Hochwohlgeborenen durch Idiotie zu ergötzen. Eine Freude ist es, zu sehen, wie idiotisch dann die Normalen werden.« Er nickte Rosalia zu und rieb sein breites Gesicht, das von der Kälte gerötet war. »Mich treibt die Sorge zu Ihnen …«
»Wer soll das verstehen?« stammelte die Bondarewa. Sie löste sich von der Wand und kam an den Tisch. Er war breit genug, um eine Grenze zwischen ihr und Mustin zu bilden.
»Ich bin der einzige auf dieser Welt, der in das Herz des Zarewitsch blickt«, sagte er mit seiner melodischen Stimme. »Und was sehe ich? Ein wilder Sturm durchwühlt es. Ein heißer Sturm der Leidenschaft zu Matilda Felixowna!«
»Gott steh' mir bei!« sagte Rosalia und setzte sich schwer auf ihren Stuhl. »Lang lebe der Zar!«
»Wir müssen darüber reden, ehe der Sturm der Vernunft verweht.« Mustin beugte sich über den Tisch vor. »Rosalia Antonowna, was können wir tun? Wie ein Blitz traf es Nikolai Alexandrowitsch, als er Matilda sah. Sie müssen mir helfen …«
Für eine Frau, die zeit ihres Lebens nur gedient hatte und sich mit den Zähnen, mit Armen und Beinen hatte durchboxen müssen, ist es schwer, klar und vernünftig zu denken, wenn aus dem Kaiserlichen Palast jemand kommt – und wenn's auch nur ein häßlicher Zwerg ist – und sie bittet: Hilf mir!
Was soll man da auch sagen? Ist es doch so, als wenn der heilige Wladimir selbst dasteht und fleht: Kühle mir meine Wunden! Da kann man auch nichts anderes tun, als auf die Knie sinken und beten …
Aber Rosalia Antonowna war keine Frau, die nur betet. Das Leben, wir wissen es, hatte sie hart mitgenommen, und wer beinahe zwei Jahrzehnte lang in St. Petersburgs finsterster Gegend überlebt und alle Widerstände besiegt hat, der mußte wie Rosalia reagieren. So sagte sie denn auch nach einer nachdenklichen Stille zu Mustin, dem Zwerg:
»So also ist das? Na, laß sie nach Hause kommen! Mit dem Besen prügele ich sie durch! Hab ich es doch geahnt! Alle sagen: Es war gar nichts. Kommt der Zarewitsch in die Ballettschule, sieht sich das Gehopse an und küßt meiner Tochter, weil sie am schönsten hopst, die Hand. Na gut! Feine Herren haben das so an sich. Ich kenne das. Damals, als ich noch Magd war, im Norden, da war ein Graf zu Besuch bei der Herrschaft. Ein Bürschlein mit einem blonden Bärtchen auf der Lippe, zartgliedrig wie ein Elfchen, mit blitzenden blauen Augen. Und was
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