Es blieb nur ein rotes Segel
es auch glauben – aber so ganz traute man dem himmlischen Frieden doch nicht. Die Fürbitten hielten so lange an, wie der Sterbende noch atmete. Sie wurden zu einem Aufschrei, wenn der letzte Seufzer erklungen war. Jetzt stand der Zar vor Gott, und es galt diesen zu überzeugen, daß dieses verblichene Leben trotz aller Belastungen ein gutes, ein gottgefälliges gewesen war.
Bei Alexander III. war es ganz anders.
Selbstverständlich empfing auch er die Kirchenführer, ließ auch er sich segnen und betete mit ihnen, aber vom Sterben sprach niemand. Der Zar lag auch nicht im Bett, wie die Ärzte dringend geraten hatten: Ein Bär verkriecht sich nicht in die Federn – er fällt um in voller Größe! Ein Krankenbett war für den Zaren etwas Abscheuliches, Verweichlichtes, Beschämendes – das einzige, was seine Umgebung ihm abrang, war, daß er in einem Sessel mit hoher gerader Lehne saß, wo er, von Schmerzen zerissen, thronte und so tat, als sei er unsterblich.
Mittlerweile hatte sich die ganze Familie auf der Krim versammelt. Auch Alice von Hessen war aus England gekommen, um beim Tod ihres Schwiegervaters zugegen zu sein. Zusammen mit der Zarin pflegte sie ihn, soweit sich Alexander III. überhaupt pflegen ließ, sie las ihm vor, sie spielte ihm auf dem Klavier Sonaten und Etüden vor und sang mit ihrer schönen Stimme Mozartarien.
»Ich werde zu meinem Vater gerufen«, sagte der Zarewitsch eines Tages im Oktober 1894 zu Matilda Felixowna, die er wieder einmal – als einfacher Mann verkleidet – besucht hatte.
Übrigens half die Verkleidung wenig, die Polizeispitzel hatten ihn längst erkannt und meldeten es dem Präsidium. Dort hatte man schwere Köpfe bekommen.
Die Zarin hatte verlangt, daß das Verhältnis mit der Tänzerin beendet würde – aber wie sollte das geschehen? Man konnte doch den Zarewitsch nicht daran hindern, das Stroitskypalais zu betreten, ebensowenig konnte man daran denken, Matilda auszuweisen, ja, das hatte sich sogar als völlig undurchführbar herausgestellt.
Der Polizeipräsident selbst hatte es einmal mit einer Unterredung versucht, aber nach drei Stunden verließ er erschöpft und schwitzend das Palais – als ein geschlagener Mann! Nun verstand er auch den Zarewitsch: Matilda Felixowna war eine wunderbare Frau! Man mußte sie einfach lieben! Aber diese Liebe durfte doch nicht sein, wenn Nikolai Alexandrowitsch in Kürze der neue Zar sein würde …
Was also sollte man tun?
An diesem Abend sagte der Zarewitsch zu Matilda: »Es geht zu Ende, Liebes. Morgen reise ich auf die Krim. Ich – werde – als Zar zurückkommen … Es gibt für Vater keine Hoffnung mehr …«
Dann weinte er, den Kopf an Matildas Brust gelehnt, und sie streichelte seine braunen Haare. Nun wußte sie, daß mit dieser Reise sich auch ihr Leben grundlegend ändern würde.
Ich komme als Zar zurück … das war das Ende ihrer großen einmaligen Liebe.
An diesem Abend tanzte sie ganz allein für Nikolai, sein Lieblingsballet: Swanhildes Tod aus ›Schwanensee‹ von Tschaikowsky.
Zum erstenmal ertönte die Musik aus einem merkwürdigen Gerät, das der Zarewitsch mitgebracht und Matilda geschenkt hatte. Man nannte es Phonograph, ein Engländer namens Edison hatte es erfunden. Es war ein verrücktes Ding mit einer Kurbel, mit der man einen Teller aufzog, auf dem eine Wachsplatte lag, über die eine Nadel an einem runden Instrument kratzte. Über dem Ganzen wölbte sich ein Trichter aus Messing; und wenn man das Ding aufgezogen hatte und die Nadel durch die Rillen der Platte zog, dann klang plötzlich ganz deutlich Musik!
Es erschien einem wie ein unbegreifliches Wunderwerk, und auch der Zarewitsch war nicht in der Lage, es zu erklären. »Schallschwingungen werden in Rillen umgesetzt und über eine Membran werden diese Schwingungen durch die Abtastnadel wieder in Töne umgesetzt – das ist das ganze Geheimnis!« sagte Nikolai Alexandrowitsch.
Aber wer soll das begreifen?
Als Mustin, der Zwerg, zum erstenmal die Kurbel drehte und aus dem Trichter kratzend, blechern, aber doch deutlich erkennbar ein Walzer erklang, fiel Rosalia Antonowna auf die Knie, bekreuzigte sich und schrie: »Geh von mir, Satan!«
Sie war zwei Tage lang nicht zu beruhigen, stellte neben den Phonographen zwei Kerzen auf zur Vertreibung der bösen Geister, und erst, nachdem sie sich überwunden hatte und selbst an der Kurbel drehte, und als von der Wachsplatte abermals ein flottes Tänzchen erklang, war sie so begeistert von dem
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