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Es blieb nur ein rotes Segel

Es blieb nur ein rotes Segel

Titel: Es blieb nur ein rotes Segel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Bondarewa, die aus tiefer Brust kam: »Herrgott, vergib uns! Das ist ein Unglücksvogel …«
    Zwei Tage später erschien Mustin, der Zwerg.
    Wie alle Menschen bei Hofe trug er einen Trauerflor, aber nicht um den Arm. Er hatte mit dem schwarzen Band seinen Spiegel auf dem Turban verhängt. Das war typisch für den kleinen Narren – er entzog den Menschen ihren eigenen Anblick.
    »Niki will dich sehen«, sagte er zu Matilda. »Dauernd empfängt er Trauergäste und Delegationen, Gouverneure und Reichsratsmitglieder, Minister und Kosaken-Atamane, Senatoren und Botschafter. In Kürze kommen die Könige von Serbien und Rumänien, vor denen es ihm besonders graut, weil sie wie die Kletten sind! Aber morgen hat er sich frei genommen, morgen will er sich bei der Jagd erholen. Er will dich auf der Wolkonskijchaussee treffen. Da ist ein weites Feld, da steht eine große Scheune … Dort will er hinkommen!«
    »Matilda geht nicht!« rief Rosalia Antonowna bissig. »Sie ist kein Hündchen, das man heranpfeift!«
    »Wann?« fragte Matilda leise.
    »Du gehst nicht!« schrie die Bondarewa.
    »Am Morgen gegen zehn …«
    »Ich komme …«
    »Festbinden werde ich sie!« schrie Rosalia Antonowna. »Was ist denn noch zu sagen? Die Braut ist eingerückt – was will er denn noch mit einer Tänzerin?«
    »Ich glaube, Nikolai wird Matilda nie vergessen!« sagte der Zwerg sehr ernst. »Er will Abschied nehmen, wie es sich gehört.«
    »Moral hat er auch noch?« rief die Bondarewa. »Ha!«
    »Wie ich. Ich bleibe ja auch bei dir …«
    »Ha, du Froschmaul!«
    »Halt dich da raus, keifendes Ungeheuer!«
    Rosalia Antonowna schnaufte, aber die Ordnung war wiederhergestellt. Auf dieser Basis verstand man sich.
    Sie kochte Tee, sorgte für Kuchen und ließ sich dann von Mustin, der die Kurbel drehte, auf dem Teufelsding von Phonograph eine traurige Melodie vorspielen.
    Am nächsten Morgen fuhr Matilda Felixowna in einer Kutsche hinaus zur Wolkonskijchaussee.
    Boris Davidowitsch Soerenberg begleitete sie zu Pferd. Er war in diesen Tagen sehr schweigsam, sehr zurückhaltend; er trat kaum in Erscheinung. Er war fast immer in Nikolais Nähe und sagte zu Matilda, er habe wegen der Staatstrauer Dauerdienst. Wußte er mehr? Was wußte er?
    Rosalia Antonowna wollte ihn unbedingt ausfragen. Sie provozierte ihn: »Bist du ein Bräutigam oder ein lallender Idiot? Was ist dir Matilda denn wert? Oh, wie schlapp sind doch heute die Männer!«
    Aber Boris schwieg beharrlich. Er kam nur ab und zu vorbei, blieb nicht lange und schlief jede Nacht in der Kaserne oder im Zarenpalast Anitschkow.
    An diesem Morgen holte er Matilda ab. Jetzt war er bei ihr – in der vielleicht schwersten Stunde ihres jungen Lebens.
    Leichter Nebel schwebte über dem weiten einsamen Feld mit der langgestreckten, strohgedeckten Scheune, als Matildas Kutschte sich näherte. Die Chaussee war verlassen, sie war wegen der kaiserlichen Jagd gesperrt worden. Ein Absperrkommando hatte die Ankommenden passieren lassen, nachdem Boris sich ausgewiesen hatte.
    Allein, in der Weite, im Nebel, unter dem trüben Himmel ein Bild der Einsamkeit, wartete neben der Scheune ein Reiter. Wie ein Symbol war es: Der neue Zar, verlassen von allen, ausgesetzt in einen unendlichen Raum, in dem er nur ein Punkt war. Ein kleiner, armer Mensch in einem Rußland, das nun ihm gehörte …
    Boris ritt an die Seite und beugte sich hinunter zum Fenster. Matilda hatte das Gesicht an die Scheibe gedrückt und starrte hinüber zu dem einsamen Reiter. »Ich bleibe zurück«, sagte Soerenberg, als sie das Fenster herunterkurbelte.
    »Du willst mich allein lassen?«
    »Zum letztenmal, Matilduschka.« Boris war sehr ernst. Auch sein Lächeln, das ihr Mut geben sollte, gefror auf den Lippen. Für ihn war dieser Morgen genauso eine Wende seines Lebens wie für sie. Er hatte sich darauf vorbereitet in den langen Stunden, die dem Tod des Zaren gefolgt waren. »Sei tapfer …«
    »Ich bin es, Borja!«
    Er winkte, der Kutscher schnalzte mit der Zunge, langsam fuhr die Kutsche über das freie Feld, der Scheune zu.
    Ein paar Meter von dem wartenden, einsamen Reiter entfernt hielt sie, der Kutscher kletterte vom Bock, zog den Hut, verneigte sich fast bis zur Erde und lief dann zur Chaussee zurück, außer Hörweite. Dort drehte er der Scheune den Rücken zu, schlug den Kragen des Mantels hoch und wartete. Wie eine Vogelscheuche sah er aus, umwallt von Nebelschwaden.
    Nikolai Alexandrowitsch ritt an die Kutsche heran, sprang vom Pferd

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