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Es blieb nur ein rotes Segel

Es blieb nur ein rotes Segel

Titel: Es blieb nur ein rotes Segel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Gerät, daß sie jede Minute dazu benutzte, eine Platte abzuspielen – besonders, wenn sie unbeobachtet war.
    An diesem Abend nun tanzte Matilda allein für den Zarewitsch nach den Klängen aus dem großen Messingtrichter die letzte Szene aus ›Schwanensee‹. An der Kurbel stand Rosalia Antonowna, heulte lautlos in sich hinein und verließ dann das Zimmer.
    Mit zitternden Hände hob der Zarewitsch den ›toten Schwan‹ auf … Matilda war zusammengesunken auf dem Boden liegengeblieben, wie der sterbende Schwan nach dem letzten Ton verendet war.
    »Mein Liebes …«, stammelte der Zarewitsch. »O Gott, mein Liebes … lebe weiter! Lebe für uns alle! Du bist nicht die Schwanenkönigin … du bist die beste Tänzerin der Welt! Du darfst jetzt nicht aufgeben! Du mußt weitertanzen!«
    Eng umschlungen standen sie im Zimmer und weinten miteinander. Mit diesen Tränen floß ein Teil ihres Lebens fort, das wußten sie, vielleicht der schönste Teil, der glücklichste jedenfalls.
    Das Leben eines Zaren hält wenig Platz bereit für ein Stück Glück.
    Am nächsten Morgen fuhr Nikolai Alexandrowitsch auf die Krim.
    Matilda wußte die ungefähre Abfahrtszeit. Sie saß um diese Stunde am Fenster, blickte in den nebeligen Morgen und betete.
    »Gott sei mir dir, Niki –«, sagte sie. »Ich habe Angst um dich. Rußland ist zu schwer für dich …«
    Auf der Krim sah Nikolai seine Verlobte Alice wieder. Sie war blaß, voller Sorge um den Zaren und fiel ihm sofort schluchzend um den Hals. Wenig später sagte sie zu ihm:
    »Jetzt mußt du zeigen, daß du der künftige Zar bist! Es sind viele Männer um deinen Vater, die nur auf seinen Tod hoffen, um dann ihre eigene Politik zu machen! Biete ihnen die Stirn, Niki!«
    Es war das erstemal, daß der große Ehrgeiz der Alice von Hessen so voll zum Ausbruch kam. Der Zarewitsch erkannte es nicht – er nickte nur besorgt. Dann ging er zu seinem Vater, auf das Schlimmste gefaßt.
    Es war alles ganz anders. Alexander III. thronte in seinem Sessel, gelblich im Gesicht, mit verfärbten Augäpfeln, aufgedunsen … die sein Leben abwürgende Urämie hatte ihn gezeichnet. Täglich wurde ihm der Urin mit Sonden und Kathedern unter größten Qualen abgesaugt, aber die totale Vergiftung war nicht mehr aufzuhalten.
    Sein eigener Körper vergiftete den Zaren.
    Aber Alexander III. saß im Sessel, begrüßte seinen älteren Sohn wie immer freundlich und streng, musterte ihn kritisch und fand ihn, wie immer, zu weichlich.
    »Du hast geweint!« sagte er grob.
    »Vater …«
    »Ein Zar weint nicht! Ein Zar weint nur vor Gott oder für sein Volk! Ihnen allein gehört sein Leben! Begreifst du das?«
    »Ja, Vater.«
    »Ich weiß, daß ich sterben werde! Klage ich? Jammere ich? Bettele ich Gott an? Nein! Ich ordne mein Reich, das du übernimmst! Also hör gut zu, Niki! Laß mich nicht in der Sorge von euch gehen, mein Rußland könnte sich verändern! Paß vor allem auf die Kommunisten und Sozialisten auf! Merke dir: Wer eine rote Fahne trägt, ist dein Feind! Die Ideen unter dieser roten Fahne sind gefährlich und zerstörerisch. Sie zerschlagen die Ordnung, aber sie geben keine neue dafür! Sie schaffen nur ein Chaos aus wirren Ideen und wortgewaltigen Phrasen! Ein Volk wie Rußland braucht eine harte Hand. Werde hart, Niki …«
    Es waren die gleichen Worte, nur noch deutlicher, die ihm schon Alice gesagt hatte. Am Abend schrieb Nikolai über seine Braut in sein Tagebuch:
    »Mein Gott, welche Freude, sie hier zu treffen, in meinem Vaterland, und sie bei mir zu haben! Die Hälfte meiner Sorgen und meiner Traurigkeit scheint zerstreut zu sein …«
    Und Alice schrieb in Nikis Tagebuch, in dem sie – wie immer – lesen konnte:
    »Mein liebes Kind, ich liebe dich so zärtlich, so innig! Sei stark und befiehl deinen Doktoren, dich täglich aufzusuchen … Du bist der Lieblingssohn deines Vaters, und man muß dir alles sagen und dich in allen Dingen befragen. Zeige deinen eigenen Willen und laß die anderen nicht vergessen, wer du bist …«
    Nun, das war deutlich genug.
    Alice von Hessen bereitete sich auf ihre Zarinnenwürde vor. Sie wollte den strengen Geist Alexander III. weitertragen …
    Wer konnte damals ahnen, daß gerade sie so kläglich versagen würde, daß sie sich zu spiritistischen Sitzungen, zu Wundermönchen wie Rasputin und in eine geradezu lähmende Religiosität flüchten würde?
    Am 20. Oktober 1894 starb der Zar.
    Auch an diesem Tag wehrte er sich gegen das Bett. Er saß in seinem

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