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Es blieb nur ein rotes Segel

Es blieb nur ein rotes Segel

Titel: Es blieb nur ein rotes Segel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Sessel, ein Bär noch in seinen letzten Atemzügen. Als das Herz versagte, abgewürgt von dem Gift, das seine gelähmten Nieren ausschickten, war es, als neige er den Kopf zur Seite, um ein Schläfchen zu halten.
    Ein Urämietod kann sehr sanft sein. Die Zarin faltete die Hände, der Leibarzt stellte den Tod fest, die Familienmitglieder und die Mönche beteten.
    Erstarrt, wie inmitten seiner Verwandtschaft ganz einsam, stand Nikolai Alexandrowitsch vor dem Toten.
    Der neue Zar.
    Neben ihm stand Alice und tastete vorsichtig nach seiner Hand. Sie war eiskalt. Er faßte nach ihren Fingern und hielt sie fest. Auch wenn man sein ganzes Leben lang auf diesen Augenblick vorbereitet wurde – es war ein überwältigend bedrückendes Gefühl, Herr über ein Reich wie Rußland zu sein.
    An diesem Tag schrieb der Zarewitsch, der nun bald Zar Nikolaus II. sein würde, in sein Tagebuch:
    »Der Kopf wirbelt mir, so unwahrscheinlich erscheint die furchtbare Wirklichkeit. Ich bin vor Kummer erledigt. Herrgott, stehe uns bei in diesen kummervollen Tagen …«
    Die schwere Last, Zar zu sein, spürte er bereits: Die Welt erwartete jetzt von Nikolaus II. irgendein Zeichen.
    Er gab es. Er wollte Alice sofort in aller Stille im Schloß von Livadia heiraten.
    Und er steckte die erste Niederlage ein: Die kaiserliche Familie, an der Spitze seine Mutter, widersetzte sich seinem Wunsch.
    Zuerst sollte das pompöse Begräbnis mit den Feierlichkeiten in St. Petersburg und Moskau stattfinden, dann könne man – so der Hof – die Trauer für einen Tag unterbrechen und im Winterpalais heiraten. Vielleicht an einem Novembertag – aber darüber müsse noch beraten werden.
    Der Zarewitsch beugte sich dem Familienspruch, und was man befürchtet hatte, brach nun offen aus: Er war durch den Tod des Vaters völlig ratlos geworden und saß lange Stunden, in trübe Gedanken versunken, am Strand des Schwarzen Meeres.
    Er empfing wenig später den Militärgouverneur der Krim, den Grafen Mussin-Puschkin, einen der wenigen Würdenträger des Reichs, die in Livadia beim Tod des Zaren anwesend waren.
    »Ich habe mich durchgerungen«, sagte Nikolai Alexandrowitsch mit belegter Stimme. »Ich werde auf die Krone verzichten!«
    Und Mussin-Puschkin antwortete: »Das dürfen Sie nicht, Kaiserliche Hoheit! Sie haben eine dynastische Pflicht übernommen!«
    »Nur, weil ich als Ältester geboren wurde?«
    »Ja! Es ist ein Gottesschicksal, Sie sind der nächste Romanow auf dem Zarenthron! Sie müssen …«
    An einem dieser Tage sprach der Zarewitsch auch mit einem Freund aus sorglosen Jugendjahren, mit dem Großfürsten Alexander Michailowitsch.
    »Was soll ich nur tun?« fragte Nikolai verzweifelt. »Ich bin zum Regieren nicht vorbereitet worden. Ich verstehe nichts von Staatsgeschäften. Ich habe nicht die geringste Vorstellung davon, wie man mit Ministern spricht, ich habe niemals Zar werden wollen! Mein großer Wunsch war immer, als Marineoffizier die ganze Welt zu bereisen. Ich habe es nie gewollt – dieses Reich mit hundert Millionen Untertanen zu regieren! Was soll ich nur tun?«
    Es war Alice, die ihn tröstete und aufrichtete. Nikolai griff mit wahrer Verzweiflung nach dieser Hilfe. »Was wäre ich ohne dich – jetzt, in dieser Not?« sagte er zu ihr, einen Tag vor der Abreise nach St. Petersburg. »Wie überstehe ich das, was jetzt auf mich zukommt?«
    Es war ein kalter, aber klarer Tag, als der große Leichenzug sich durch die Straßen der Hauptstadt bewegte. Dicht gedrängt stand die Menge an den Straßenrändern, betete oder kniete nieder, wenn der Sarg langsam vorbeifuhr, bekreuzigte sich und starrte gespannt auf die deutsche Prinzessin, die neben dem künftigen Zaren in der Kutsche saß.
    Das also war sie, die neue Herrin!
    Ganz in Schwarz, in Trauerschleier gehüllt, mit von Weinen geröteten Augen, die Lippen fest zusammengepreßt, so fuhr Alice durch St. Petersburg. Noch auf der Krim, vor der Abreise, war sie offiziell zum orthodoxen Glauben übergetreten. Sie hieß nun Alexandra Fjodorowna.
    Auch Rosalia Antonowna hatte sich aufgestellt, um das neue Mütterchen Rußlands zu sehen. Sie saß neben Matilda auf der Bank einer Kalesche, in Wolldecken gehüllt, und überblickte die Menge der Gaffer.
    Es war unheimlich still, als die Kutsche mit dem Zarewitsch und seiner Braut Alexandra Fjodorowna vorbeifuhr, dieser in Trauer und Würde erstarrten, von wallenden schwarzen Schleiern umhüllten Gestalt.
    Ziemlich klar und laut ertönte die Stimme der

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