Es blieb nur ein rotes Segel
vergessen hatte.
Matilda winkte nicht. Sie stand nur da und blickte ihm nach. Er hielt immer wieder an, sein Herz krampfte sich zusammen; er rang mit sich, zurückzureiten, und er wußte doch gleichzeitig, daß es keinen Sinn mehr hatte … So ritt er weiter, die Gestalt vor der Scheune wurde kleiner und kleiner, die Nebelschleier umwallten sie, lösten nun schon ihre Form auf, hoben sie von der Erde auf, trugen sie hinweg …
Da hieb er die Sporen dem Pferd in die Weichen, beugte sich über den Hals des Tiers und ließ sich in einem wilden Galopp wegtragen aus der Vergangenheit.
Matilda sah ihm nach, bis sich auch Nikolai im Nebel auflöste. Dann wandte sie sich um, stieg in die Kutsche, schlug die Tür zu und drückte sich in die Ecke der Polsterbank. Sie weinte nicht, sie zerriß nur ihr Taschentuch zwischen den Zähnen und atmete tief auf, als sie endlich den Kutscher auf den Bock klettern hörte, die Räder rollten, und als die Kutsche über das Feld zu schwanken begann.
Vorbei … vorbei … vorbei … knarrten die Räder. So gehen Teile des Lebens zu Ende. Der Mensch stirbt dauernd und in Stücken – jetzt verstand sie diesen Satz.
Auf der Chaussee gesellte sich Boris Davidowitsch, der Getreue, an ihre Seite. Er ritt neben ihr und war so klug, nichts zu sagen. Er warf auch keinen Blick in die Kutsche. Aber Matilda beobachtete ihn. Er hatte ein kantiges Gesicht bekommen, starrte geradeaus und ritt unbewegt einher.
O Boris, dachte Matilda, wie mußt du mich lieben! Was kann ich für dich tun? Wie kann ich dir für alles danken, was du für mich getan hast? Wieviel stilles Leid hast du in dich hineingefressen …
Sie lehnte sich zurück, zog die Pelzmütze über ihre Stirn und schloß die Augen. Sie brannten, aber es kamen keine Tränen, um das Feuer zu löschen.
Ich bin leer, dachte Matilda. Ich bin vollkommen leer. Ich bin wie eine der Puppen im Ballet Coppelia. Ich tanze nach dem Uhrwerk in meiner Brust.
Gott hilf mir, daß ich das überwinde!
XIV
Die Trauung des Thronfolgers mit Alexandra Fjodorowna fand am 14. November 1894 in der Kapelle des Winterpalais von St. Petersburg statt.
Der gesamte Hof war versammelt, sämtliche Großfürsten und Fürstinnen des russischen Reichs, der Adel der Welt. Beim dumpfen Choralgesang eines Priesterchors wurde das junge Paar eingesegnet.
Es wurde ein glanzvolles Fest. Nikolai trug die rote Uniform des Gardehusaren-Obersten; über die Schulter hatte er den goldverbrämten weißen Dolman geworfen. Der Thronfolger war sehr ernst; als der Segen gesprochen wurde, war sein Blick melancholisch.
Alexandra Fjodorowna erstrahlte in einer Schönheit, die niemand für möglich gehalten hatte. Ihr Brautkleid war aus weißer, silberdurchwirkter Seide, über das sie einen Mantel aus Goldbrokat trug. Die Schleppe dieses Überhangs war so lang, daß fünf Kämmerer sie tragen mußten. Auf ihrem hochgesteckten Haar glitzerte das Diamantdiadem der Zarinnen – eine vorweggenommene Krone von unschätzbarem Wert.
Hoch aufgerichtet, stolz und sich ihrer überwältigenden Wirkung voll bewußt, schritt sie neben Nikolai durch das Spalier der Gäste, betrat sie zu dem feierlichen Tedeum die Kathedrale und fuhr sie schließlich an der Seite ihres Mannes durch St. Petersburgs Straßen.
Das Volk jubelte dem schönen Paar zu, schwenkte Fahnen und Tücher, kniete nieder und rief ihm Gottes Segen zu. Ein neuer Zar! Ein schöner Zar! Ein gütiger Zar – das sah man.
Würde jetzt ein anderer Wind über Rußland wehen? Würde es mehr Freiheiten geben? Begann endlich eine aufgeklärtere Politik? Würde Rußland aus einer Erstarrung erwachen, die der bärenstarke Despot Alexander III. so geliebt hatte und von Nutzen hielt?
»Er wird alles falsch machen!« orakelte der Zwerg Mustin an diesem Tag. Er stand mit Rosalia Antonowna hinten in der riesigen Kasanschen Kathedrale und lauschte dem Tedeum. Sie waren ein seltsames Paar: der Zwerg mit dem Riesenkopf und die Dicke mit dem Riesenbusen … »Heute jubeln sie noch alle … Bis sie sehen und erkennen, daß von zwanzig Beratern des neuen Zaren einundzwanzig Lumpen sind!«
Im Marktviertel saßen die Kommunisten zusammen und waren sich einig: Rußland wird sich verändern. Diesen Zaren würde man wegwerfen wie Herbstlaub vor der Tür …
Am Abend ertanzte Matilda Felixowna sich ihren größten Erfolg in ›Schwanensee‹.
Atemlos starrten die Operngäste auf die Bühne, wo etwas Unfaßbares geschah: Man glaubte nicht mehr, daß dort ein
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