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Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts

Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts

Titel: Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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    Das Warensortiment war im entwickelten Sozialismus begrenzt, dafür gab es bei uns viele Schnäppchen, viel mehr, als sich ein entwickelter Kapitalismus leisten könnte. Die Nachfrage spielte bei unseren Schnäppchen keine Rolle, weil die staatliche Preisbildung ideologisch orientiert war. Sie beschenkte die Bevölkerung mit Gütern, die sie nach Meinung des Staates brauchen sollte. In der sozialistischen Planwirtschaft wurden alle Waren und Leistungen nicht aus Notwendigkeit, sondern nach Parteibeschluss als Teil eines allgemeinen Entwicklungsplans produziert. Diese Schnäppchen bestimmten das Leben von Millionen. Sehr preiswert waren zum Beispiel Brillen, Saiteninstrumente und Nasentropfen. Außerdem gab es eine Überproduktion an Kämmen, Zahnbürsten,
Antibiotika und Kartoffelpüree. Das hatte zur Folge, dass viele Bürger Probleme mit ihrer Sehkraft hatten sowie Probleme mit den Zähnen, oder sie litten an Haarausfall, weil sie sich ständig kämmten. Dafür konnten die Bürger beinahe vollzählig Gitarre spielen, die meisten eine klassische Version des Instruments mit sechs Saiten, manche spielten auch siebensaitige Gitarre, was eine gewisse Virtuosität im Umgang mit dem großen Finger erforderte, und dann natürlich Balalaika. Auch Sportartikel waren preiswert, etliche wurden sogar umsonst verteilt.
    Ein gutes Geschenk zum Geburtstag in der Sowjetunion war ein Schachbrett. In jedem Haushalt gab es mindestens zwei davon, und dementsprechend war jeder zweite Bürger ein Schachmeister. Bei den Lebensmitteln war in der Sowjetunion gefrorener Fisch am billigsten, in unserem »Gastronom« lagen Berge davon. Oft war es ein Fisch ohne Namen, ohne Kopf und ohne Schwanz, ein Unfisch, der schon halb aufgetaut fürchterlich stank. Niemand kam auf die Idee, dieses Produkt zu essen, aber irgendjemand musste diese Berge ja verputzen, sonst wäre die ganze Planwirtschaft in Gefahr geraten. So wurden Katzen zu den beliebtesten Haustieren des Sozialismus.
    Natürlich hatte man in der Stadt auch Hunde,
diese sogenannten wahren Freunde der Menschen. Doch die Hundehaltung war teuer und aufwendig. Hunde fraßen keinen Unfisch, für sie war im Sozialismus die Buchweizengrütze vorgesehen. Die Zeitschrift Freund , in der es übrigens nur um Hunde ging, pries Buchweizen als die einzig richtige Hundenahrung an. Die Grütze würde jeden Dackel zu einem Pitbull machen, hieß es. Die Hunde waren anderer Meinung. Besonders die großen fielen in der Sowjetunion etwas aus dem Rahmen, sie wirkten oft durchgedreht, jagten Krähen, sprangen in Mülltonnen und bellten angestrengt laut. Außerdem hatten sie große Verdauungsprobleme, saßen stundenlang wie Adler in den Büschen und erschreckten mit ihren roten Augen die Kinder. Angeblich waren das alles Nebenwirkungen der Buchweizengrütze. Der Brei verdarb bei Hunden den Charakter.
    Die Katzen in der Sowjetunion waren in ihrer Mehrheit ganz fit und nicht sterilisiert wie ihre dicken Plüschbrüder und -schwestern im kapitalistischen Westen. Der Unfisch machte sie stark und wirkte zusätzlich erregend auf sie. Das ganze Jahr über waren die Katzen in der Sowjetunion mit Liebesspielen beschäftigt. Die Männchen stanken, und die Weibchen krähten wie die Hühner oder jaulten wie Babys die Nächte durch. Jeder Versuch, sie zur Vernunft zu bringen,
scheiterte. Schon bei der kleinsten Gewaltandrohung liefen sie weg und kamen nicht wieder. Sie waren die einzig Freien im Sozialismus, so frei, dass man sie eigentlich nicht einmal als Haustiere bezeichnen konnte. Sie lebten nicht mit, sondern neben uns Menschen. Das Einzige, was uns verband, war der gefrorene Unfisch. Ich bin dem Unfisch später in der Armee in gebratener Form auf dem eigenen Teller noch einmal begegnet und muss sagen: Er war besser als sein Ruf.
    Aber das real existierende Haustier im Sozialismus war nicht die Katze, sondern die Schildkröte. Aus einem für mich bis heute nicht nachvollziehbaren Grund kostete eine Schildkröte im Sozialismus drei Rubel, weniger also als eine Flasche Wodka oder so viel wie ein Blumenstrauß. Nicht selten bekamen Kinder und sogar Erwachsene zu jedem Geburtstag eine neue Schildkröte geschenkt. Es handelte sich dabei um eine Steppenschildkröte: Agrionemys horsfieldi , die vor allem in Nordkasachstan anzutreffen ist. Wahrscheinlich ging es dabei um ein barter , ein Tauschgeschäft im Rahmen der sozialistischen Planwirtschaft. Kasachstan bekam Maschinen und Tomaten und lieferte

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