Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts
dafür, was die Republik im Überfluss hatte – unter anderem Schildkröten.
Als Haustier war die kasachische Schildkröte optimal.
Sie ernährte sich von Pusteblumen, kackte in unsichtbaren Mengen und schlief die meiste Zeit des Jahres. Sie bellte nicht, sie konnte nicht beißen, und sie sah gut aus. Ihre Anspruchslosigkeit und vor allem der niedrige Preis führten zu einer beachtlichen Schildkrötenschwemme. Schildkröten verachtende Experimente waren an der Tagesordnung. Aus Spaß und Neugier legten Kinder ihre Schildkröten unter die Räder von Autos oder warfen sie vom Balkon, um festzustellen, was der Schild der Kröte alles aushalten konnte. Wenn die Kinder draußen spielten, nahmen sie immer ihre Schildkröten mit. Viele von ihnen buddelten sich sofort im Sandkasten ein und tauchten nie wieder auf. Ich kannte ein Kind, dessen Schildkröte sich in einen Berg schmutziger Wäsche eingebuddelt hatte und in der Waschmaschine gekocht wurde. Ein anderes Kind hatte mit dem Werkzeug seines Vaters versucht, die Schildkröte auseinanderzunehmen. Man kann mit einigem Recht sagen, dass die Schildkröten und nicht die Dissidenten die wahren Opfer des sowjetischen Regimes waren, die Sündenböcke des entwickelten Sozialismus.
Das Ende der Sowjetunion bedeutete allerdings auch das Ende der Schnäppchen. Plötzlich gab es keine billigen Haustiere mehr. Die Reichen kauften
sich exotischere Tiere, dressierte Piranhas oder Russisch sprechende Papageien. Die Armen hatten Mücken und Holzkäfer. Die Agrionemys horsfieldi kehrte in ihr natürliches Territorium, die Steppe Nordkasachstans, zurück.
Meine Briefmarkensammlung
Nach einem Umzug finden sich manchmal längst verloren geglaubte Dinge wieder ein, die man eigentlich gar nicht vermisst hat. Alte Familienreliquien kommen ans Licht, deren Wert allein darin besteht, dass es sie überhaupt noch gibt. So stieß ich beim Stöbern in einem Umzugskarton, der seit zwei Jahren unausgepackt im Korridor stand, auf meine alte Briefmarkensammlung. Die Kinder waren begeistert, weil sie selbst leidenschaftliche Sammler sind. Meine Tochter sammelt Bücher, alte Zeitungen, Magazine, Kataloge, Plakate, Postkarten, eigentlich so ziemlich alle Papiererzeugnisse, die sie in der Wohnung findet,
um sie dann gleichmäßig in ihrem Zimmer zu verteilen, so dass bei einem Besucher sofort der Eindruck entsteht, es mit einem sehr belesenen Menschen zu tun zu haben.
Mein Sohn geht noch in die Grundschule, er hält nicht viel von dicken Büchern. Dafür sammelt er leidenschaftlich Pokémon-Figuren und Yu-Gi-Oh!-Karten, die er in großen Einkaufstüten unter seinem Bett aufbewahrt. Seine Sammlung scheint noch nicht abgeschlossen zu sein, obwohl sie schon fünf Tüten füllt. Außerdem hat Sebastian im Herbst eine große Sammlung herabgefallener Kastanien angelegt. Bei jedem Spaziergang stopfte er sich die Taschen mit ihnen voll und versteckte sie anschließend in der Wohnung, vor allem in unserem Schlafzimmer, wo wir noch im Februar unter der Matratze und hinter der Heizung auf Kastanien stießen. Besonders die Katzen hatten großen Spaß damit.
Meine Briefmarkensammlung wurde von den Kindern mit Respekt aufgenommen, obwohl es mich viel Mühe kostete, ihnen zu erklären, warum die Marken so klein, um nicht zu sagen: pissig sind. Im Einzelnen erkannte man darauf eine englische Königin, einen Kennedy, einen ägyptischen Pharao mit abgerissener Ecke und jede Menge sowjetische Schauspieler, Tauben und Kosmonauten. Wie soll man seinen Kindern
begreiflich machen, unter welch schwierigen Umständen diese Sammlung zustande gekommen ist?
Das Sammelalbum wurde mir zum zwölften Geburtstag geschenkt, zusammen mit einem Fünfundzwanzig-Rubel-Schein. Meine Großtante Lida aus Odessa, die Schwester meiner verstorbenen Großmutter, meinte, die Briefmarken würden mich offener und kommunikativer machen, dazu meinen geistigen Horizont erheblich erweitern. Ich hielt nicht viel von dieser Idee. Der Geldschein begeisterte mich mehr. Er war violett, mit einem durchsichtigen Lenin-Kopf als Wasserzeichen. Leider riss ihn sich sofort mein Vater unter den Nagel, mit der Begründung, er würde schon lange genau solche Geldscheine sammeln. Als Gegenleistung kaufte er mir in einem Zeitungskiosk einen Haufen Briefmarken, die den Grundstein meiner zukünftigen Sammlung bilden sollten: kubanische Vögel, chinesische Gymnastikerinnen, äthiopische Friedensaktivisten, sowjetische Schauspieler, Tauben und Kosmonauten – die
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