Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts
Briefmarkenauslese des sozialistischen Lagers.
Anschließend kundschaftete ich den geheimen Treffpunkt der Briefmarkensammler in unserem Bezirk aus: Sie trafen sich jeden Sonntag neben der alten Baugrube in der Partisanenstraße hinter dem Filmtheater. Die Erwachsenen bildeten kleine, geschlossene
Interessengemeinschaften, die Kinder liefen herum. Es ging dabei nicht nur um Briefmarken. Von Edelmetall bis Kriegsorden, alles war in der Partisanenstraße zu finden, wenn man die richtigen Beziehungen hatte. Das Stammpublikum war jedoch misstrauisch neuen Gesichtern gegenüber. Die Grenze zwischen Sammeln und Spekulieren war fließend, das Tauschen nicht direkt verboten, aber auch nicht wirklich erlaubt.
In der Partisanenstraße erzählte mir ein Rentner, dass es Briefmarken gebe, die Millionen wert seien. Meine sowjetische Sammlung gehörte mit Sicherheit nicht dazu. Deswegen wollte ich sie so schnell wie möglich loswerden, das heißt gegen die normalen antisowjetischen Marken eintauschen. Die kubanischen Vögel tauschte ich gegen eine englische Königin, die Äthiopier gegen Kennedy, die Serie mit der chinesischen Gymnastik gegen einen ägyptischen Pharao. Die sowjetischen Schauspieler, Tauben und Kosmonauten wollte niemand haben. Am nächsten Wochenende tauschte ich Kennedy gegen eine holländische Prinzessin und die englische Königin gegen Kennedy. Die Schauspieler und Kosmonauten wollte nach wie vor niemand. Doch wiederum eine Woche später gelang es mir, die holländische Prinzessin gegen die englische Königin zu tauschen und den Pharao gegen
einen anderen Pharao mit abgerissener Ecke. Die Nachfrage nach sowjetischen Kosmonauten, Tauben und Schauspielern blieb unverändert. Die Tauschgeschäfte der darauffolgenden Wochen verliefen ähnlich. Mir fehlte die Ausdauer eines richtigen Sammlers. Ich hatte das Gefühl, meine Sammlung würde mich in eine Sackgasse führen, und hörte mit dem Tauschen auf.
Nebenbei bemerkt blieb mein Vater, anders als ich, seinem Hobby treu. Er ließ sich nicht von irgendwelchen neumodischen Sammlermoden ablenken und sammelte streng orthodox seine Fünfundzwanzig-Rubel-Scheine weiter, zehn Jahre lang. Sie wurden in einer Fotopapier-Schachtel sorgfältig aufbewahrt, bis die sogenannte Geldreform das Land erschütterte und seine Sammlung in einen Altpapierhaufen verwandelte. In seiner Enttäuschung verzichtete mein Vater auf alle weiteren Sammelaktivitäten und konzentrierte sich ganz auf die Dichtung.
Ich dagegen bin trotz meiner relativ kleinen Sammlung kommunikativ und offen geworden, auch mein geistiger Horizont hat sich seitdem erheblich erweitert. Danke, Tante.
Die Frisuren des vorigen Jahrhunderts
Privatleben war früher Mangelware. Soweit ich zurückblicken kann, war ich immer von Kollektiven, Gruppen und Kreisen umgeben, Individualismus jeglicher Art grenzte an Verbrechen. Unsere Einsamkeit hatte kosmische Züge – wir waren allein im Universum, aber nie allein zu Hause. Alle schienen miteinander verknetet zu sein, und alle warteten auf irgendetwas.
Am treffendsten beschrieb diesen Zustand Samuel Beckett in seinem berühmten Theaterstück Warten auf Godot . Sobald jemand auf der Welt anfängt zu lachen, schrieb er, hört ein anderer woanders auf. Einige
ausgewählte Ausschnitte aus diesem Stück erschienen auf Russisch zum ersten Mal in einem kleinen Sammelband mit dem Titel: Die Fäulnis der kapitalistischen Kultur im XX. Jahrhundert – zusammen mit den Werken anderer westlicher Avantgardisten. Wir haben dieses Büchlein verschlungen und sehr dabei gelacht. Es muss, so vermute ich, jemand zur gleichen Zeit sehr geweint haben.
Wie bei Becketts Helden kam unser Leben nicht wirklich voran. Jeder Tag war neu, aber genau wie der vorige, alles drehte sich, das eine Universum um das andere, die Erde drehte sich sowieso, und wir drehten uns mit ihr mit. Diese Kreisförmigkeit des Daseins spiegelte sich sogar in den Frisuren der Menschen. Die Frauen bauten gerne kleine runde Häuschen auf ihrem Kopf, auch als »Läusehäuser« bekannt, oder sie wickelten ihren Zopf um den Kopf herum, das sogenannte »Lenkrad«. Die Männer wussten mit ihren Haaren wenig anzufangen. Die einen schnitten sie vorne kurz und ließen sie hinten lang wachsen, die anderen hatten umgekehrt vorne lange Haare und hinten nichts. Beides sah nicht wirklich gut aus.
Zum Glück bekamen die meisten Männer schon relativ früh eine Glatze und mussten sich nicht mehr den Kopf über ihre Frisur zerbrechen. Laut
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