Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts
einem alten russischen Sprichwort galt es, zwei Arten von
Glatzen zu unterscheiden: »Die Glatze vorne kommt von großem Wissen, die hinten von den fremden Kissen«, hieß es. Die erste Variante wurde mit Respekt von der Gesellschaft behandelt, die leichtsinnige Kissenglatze musste dagegen getarnt werden. Entweder rasierte man sie zu einer ultimativen Vollglatze oder kaschierte sie mit einer sogenannten Brücke – einer Handvoll lang gewachsener Haare, die von der Seite her die Glatze überbrückten. Mit einer solchen Brücke auf dem Kopf musste man bei jedem Spaziergang die Windrichtung ziemlich genau einschätzen können. Wenn man sich dem Wind von der falschen Seite stellte, ging die Brücke sofort hoch, und der Brückenträger war blamiert. Die meisten Männer trugen ihre Glatze allerdings mit Würde. Nur manche rückständige Elemente bekämpften ihre Glatzen, in der Regel mit unwissenschaftlichen, volkstümlichen Oma-Rezepten: Sie rieben sich den Kopf zum Beispiel regelmäßig mit Zwiebeln oder sogar Knoblauch ein. Diese Methoden beförderten den Haarwuchs überhaupt nicht, sie sorgten nur für noch größere Kommunikationsprobleme im Kollektiv.
Die Wissenschaft stand jedoch keine Sekunde still. Jedes Jahr wurden Dutzende von Erfindungen bekannt, die das Leben grundsätzlich verändern sollten. Der Erfindungswahn erfasste die ganze Gesellschaft.
Ende der Achtzigerjahre kamen die ersten Haarimplantate auf den Markt. Ab sofort konnte man sich Haare auf dem Kopf einpflanzen lassen wie Gladiolen auf dem Balkon, behaupteten die Erfinder. Unser damaliger Nachbar, ein zu früh pensionierter Angehöriger der sowjetischen Armee, der bei uns auf dem Hof den Spitznamen »Fantomas« bekam und sich eine Einzimmerwohnung im Erdgeschoss mit seiner alten Mutter teilte, unterzog sich dieser komplizierten Operation. Er lief danach lange Zeit wie ein arabischer Scheich herum, mit einem um den Kopf gewickelten weißen Tuch. Trotz absoluter Geheimhaltung seitens seiner Familie wusste jeder im Haus über die Operation Bescheid. Alle warteten neugierig, das Nachbarkollektiv war auf die Gladiolen sehr gespannt. Dann endlich erschien Fantomas eines Tages ohne Tuch in der Öffentlichkeit, dafür mit einer Militärmütze auf dem Kopf, die er niemals mehr abnahm. Es musste also bei der Operation doch etwas schiefgelaufen sein.
Die Spekulationen darüber, was nun genau auf Fantomas’ Kopf gewachsen war, nahmen kein Ende, bis der ehemalige Offizier für alle unerwartet aus unserem Haus verschwand. Man munkelte, er müsse sich wegen eines Nervenleidens stationär behandeln lassen. Zwei Monate später, im Sommer, wurde Fantomas
erneut auf dem Hof gesichtet. Aus dem Klinikum war unser Nachbar als ganz anderer Mensch zurückgekommen. Er hatte deutlich zugenommen und war viel freundlicher und kommunikativer als früher. Nur seine Mütze trug er unverändert weiter, das störte aber niemanden mehr. Bei gutem Wetter saß er am geöffneten Küchenfenster und unterhielt sich mit jedem, der vorbeiging. Auf dem Fensterbrett hatte er eine Flasche Bier und einen Aschenbecher stehen.
Auch wir armen Studenten, die oft kein Geld für eigenes Bier und Zigaretten hatten, blieben vor seinem Küchenfenster stehen. Manchmal, wenn Fantomas etwas getrunken hatte, erzählte er uns, was für interessante Menschen er während seines Aufenthaltes im Krankenhaus kennengelernt hatte. Er erzählte von dem Erfinder eines asymmetrischen Schachspiels, vom Erfinder eines Gummiflugzeugs und von einem, dem die Quadratur des Kreises gelungen war, obwohl oder weil er unter Depressionen litt und ständig versucht war, sich das Leben zu nehmen. Außerdem lernte Fantomas angeblich in der Klapse den berühmten Breschnew-Attentäter kennen, ebenfalls ein früh pensionierter ehemaliger Armeeoffizier mit Glatze, der aus Sibirien nach Moskau gekommen war, um Breschnew umzubringen. Zu diesem Zweck
knallte er mit seinem Lada und hoher Geschwindigkeit gegen die Kremlmauer, überlebte jedoch den Zusammenprall.
Die Begegnung mit diesen Menschen habe seinen Horizont unglaublich erweitert, behauptete Fantomas. Der Erfinder des asymmetrischen Schachspiels würde ihm gelegentlich Briefe schreiben, meinte er. Der Attentäter wurde leider verlegt, und den depressiven Entdecker der Quadratur des Kreises hätte vor kurzem eine Putzfrau aus Versehen umgebracht. Als er nach einem gescheitertem Versuch, sich die Pulsadern aufzuschneiden auf der Intensivstation lag, hatte die Putzfrau kurzerhand
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