Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts
die Stecker für seine lebenserhaltenden Geräte herausgezogen, um ihren Staubsauger anzuschließen.
Die Helden des vorigen Jahrhunderts
Die Welt war uns nie gut genug, wir wollten immer eine andere. In der Sowjetunion dachten wir, überall würde es den Menschen besser gehen als bei uns. Unsere junge, enthusiastische Geografielehrerin gab sich mit der bereits vorhandenen Fachliteratur nicht zufrieden, sie wollte uns die weite Welt aus quasi erster Hand nahebringen, wir sollten sie riechen und schmecken. Dazu benutzte sie kapitalistische Kosmetik, trug ausländische schicke Pullover und Jeans und brachte oft Ungewöhnliches zum Unterricht mit.
Während wir die Welt nur innerhalb der Grenzen
des Vaterlandes kennenlernen konnten, hatte unsere Geografielehrerin anscheinend einen geheimen Tunnel ausfindig gemacht, der nach draußen führte. Oft fehlte sie mehrere Wochen in der Schule, während der Direktor sie ungeschickt vertrat. Dann erschien sie wieder und hatte immer etwas Exotisches dabei. Einmal brachte sie sogar eine Kokosnuss mit in die Klasse. Die Nuss hatte lange Haare, war klein und dunkelbraun. Sie wurde von der Mehrheit der Schüler nicht als Nuss anerkannt. Die Lehrerin knackte sie, goss die Milch in ein Glas und verteilte sie tropfenweise aus einer Pipette – sehr sparsam, schließlich sollte jeder etwas davon abbekommen. Die Kokosnussmilch hat uns überhaupt nicht gefallen. Sie schmeckte bitter-süß, hatte etwas Nasentropfiges im Abgang und reduzierte entschieden unsere Begeisterung für die ausländische Lebensmittelkultur, für den Erdkundeunterricht und die weite Welt im Allgemeinen.
Unsere geografischen Kenntnisse blieben also ziemlich schwach, was sich noch einmal rächte, als die Ausreisegesetze in der Sowjetunion liberalisiert wurden. Viele sahen darin ihre Chance, endlich die große weite Welt kennenzulernen. Sie liefen zu der Behörde, die für die Ausstellung von Ausreisegenehmigungen zuständig war. Viele wussten noch nicht, wo genau sie
hinwollten. Andere wussten zwar schon, wo sie hinwollten, aber sie wussten nicht, wo das war. Oder sie konnten den Namen des Ortes nicht richtig schreiben.
Um den Menschen zu helfen und ihnen die Qual der Wahl zu erleichtern, hatte man im Erdgeschoss der Behörde neben der Kasse einen großen Globus aufgestellt. Wie in Trance drehten die Menschen diesen Globus stundenlang hin und her, so herum und andersherum, dabei belästigten sie andauernd die Sachbearbeiter mit dummen Fragen: Ob das wirklich ein kompletter Globus sei oder vielleicht doch nicht ganz auf dem neuesten Stand, und ob sie nicht möglicherweise irgendwo im Keller für die Freunde des Chefs und seine Verwandten oder gar gegen eine extra Gebühr einen anderen Globus bekommen könnten. Die Mitarbeiter lachten darüber und trugen zuletzt den alten Globus einfach weg, statt einen neuen anzuschaffen. Er war zu diesem Zeitpunkt auch schon ziemlich beschädigt, sprang ständig aus der Achse, die Namen der meisten Metropolen waren nicht mehr lesbar, und da, wo Moskau lag, war ein Loch, weil jeder als Erstes mit dem Finger dort hineingedrückt und gesagt hatte: »Also, wir befinden uns hier.«
Es war eine Zeit des allgemeinen Fliegens, nur der Dumme flog nicht irgendwohin. Die meistgeliebten
Helden waren die Flughelden, es gab sie in jedem Land. Je größer das Land, desto flugsicherer waren seine Helden. In Amerika hießen sie Superman, Batman und Spiderman. Letzterer schleuderte sich mithilfe eines Spinnennetzes durch die Luft, wie es eine Spinne nie tun würde. In den kleinen gemütlichen Ländern waren auch die fliegenden Helden gemütlich und klein. Die Schweden hatten einen Karlsson auf dem Dach – einen kleinen Mann mit einem Propeller auf dem Rücken –, in Deutschland war es die Biene Maja, ein überintelligentes Insekt, das durch seinen Fleiß und seine Ordnungsliebe noch heute als Vorbild für viele Deutsche dient.
In Russland wimmelte es geradezu von Flughelden. Neben solchen Märchenfiguren wie dem fliegenden Pferdchen, dem Feuervogel, Baba Jaga und dem Spuckdrachen gab es real existierende Flughelden zum Anfassen – Alexej Meresjew, der ohne Beine ein Sturmflugzeug lenkte, oder Walerij Pawlowitsch Tschkalow, der als Erster mit seinem Flugzeug den Atlantik überquerte. Der größte Flugheld Russlands war natürlich Juri Gagarin, der erste Mensch im Weltall. Sein Flug war kurz und unspektakulär, er dauerte nur hundertacht Minuten. Während des Fluges sang Gagarin die ganze Zeit
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