Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts
überleben. Nehmen Sie den Gewinn, ich kann Ihnen noch eine Zigarette dazugeben.«
»Idiot!«, regten sich meine Fans auf. »Du hast alles versaut!«
Plötzlich waren alle weg, die Lottofee mit dem Geldkoffer, die Männer mit den Pelzmützen und die eilige Blondine. Ich stand allein hinter dem Imbiss mit einem nicht eingelösten Gewinnschein in der Hand – und fühlte mich irgendwie betrogen.
Die Lieder des vorigen Jahrhunderts
Eines der wenigen Lieder, die ich als Kind freiwillig auswendig lernte und noch heute singen kann, stammt aus einem alten sowjetischen Abenteuerfilm : Die Kinder des Kapitän Grant. Gedreht 1936 nach dem berühmten gleichnamigen Roman von Jules Verne, gehörte dieser Film zu den wenigen der damaligen Zeit, die sich nicht direkt mit der Problematik der sozialistischen Erziehung der Jugend auseinandersetzten. Es ging darin also ausnahmsweise nicht um Pioniere, die ihre Eltern an die Staatssicherheitsorgane verraten, sondern um zwei parteilose Kinder namens Robert und Mary, die auf der Suche nach ihrem verschollenen
Vater, Kapitän Grant, sind. Tapfer kämpfen sie gegen gefährliche Stürme, unbekannte giftige Reptilien und aggressive Piraten; sie lernen Seeleute und Wissenschaftler kennen, steuern selbstständig ein Schiff und verhandeln mit furchterregenden Kannibalen – stets vom starken Wind des Ozeans umhergetrieben.
Jedes Mal, wenn dieser Film im Fernsehen lief, bedauerte ich am Ende sehr, dass die Kinder schließlich doch noch auf einer unbewohnten Insel ihren Vater entdeckten und damit quasi ihren ganzen Abenteuer-Bonus verspielten, der sie über alle Erwachsenen erhoben hatte. Die ganze Zeit waren sie mutig und diszipliniert, blieben in jeder Situation optimistisch und fanden tatsächlich immer einen Ausweg. Nebenbei sonnten sie sich, winkten aus dem Bildschirm dem Fernsehzuschauer zu und sangen brav immer wieder den Titelsong des Films, »Genosse Wind«:
Sing uns dein Lied, alter Freund, Genosse Wind!
Genosse Wind! Genosse Wind!
Du wehst durch jeden Winkel, jedes Labyrinth,
Und alle Lieder hörst du bestimmt!
Singe uns von den Wüsten und Bergen,
Von den Tiefen und Höhen der Erde,
Von Riffen und von Felsen,
Von großen Superhelden.
Dein freies und lustiges Lied!
Robert und Mary brauchten weiß Gott keinen Vater, sie brauchten Geschlechtsreife und ein eigenes Schiff. Sie konnten um die ganze Welt segeln, mit dem Genossen Wind immer auf der Überholspur – fantastisch! Doch der Vater wartete bereits seit Anfang des Films auf seiner Insel, trank durstig Kokosmilch und schaute nervös auf die Uhr. Die Begegnung mit ihm war dank Jules Verne unvermeidlich. Alle weiteren Abenteuer durften also nur noch mit ihm am Steuer stattfinden. Mich faszinierten damals die Kinder von Kapitän Grant, doch selbst wenn ich ein Segelschiff gehabt hätte, was vollkommen unmöglich war, und dazu noch einen Ozean, wäre ich mit meinem Schiff nicht weit gekommen. Wir lebten in einer sumpfigen Gegend, sogar unterhalb des Meeresspiegels, glaube ich. Genosse Wind war bei uns ein seltener Gast. Die wahren Abenteuer gibt es wohl nur im Fernsehen, so dachte ich zwanzig Jahre lang. Bis ich eines Tages selbst auf einer kaum bewohnten Insel mitten im
Ozean landete und mit dem Genossen Wind persönlich Bekanntschaft machte.
Das ganze Abenteuer war eigentlich als Urlaub für meine Familie geplant.Wie jedes Jahr wollten wir uns auch diesmal vor der dunklen Winterzeit in Berlin drücken und irgendwohin fliegen, wo das ganze Jahr über die Sonne schien. Nur von diesem verfluchten Massentourismus hatten wir die Nase endgültig voll. Unsere Idee diesmal war also, ein kleines Häuschen am Fuße eines nicht mehr funktionierenden Vulkans zu mieten, eine abgelegene Hütte ohne lästige Nachbarn, weitab von jeglicher Zivilisation. Nur Sonne, frische Luft, Strom und Warmwasseranschluss. Vielleicht ein oder zwei Supermärkte in der Nähe, ein paar Kneipen und Restaurants wären auch nicht schlecht, ansonsten aber nur Natur pur.
Unsere Suche im Internet nach einem passenden Angebot brachte keinen Erfolg: Alle abgelegenen Hütten mit Strom und Warmwasseranschluss waren entweder bereits ausgebucht oder unbezahlbar. Und entweder befanden sie sich nicht am Fuße des Vulkans, sondern in seinem Krater, oder sie sahen allzu abenteuerlich aus, wie Onkel Toms Strohhütte. Das war uns auch suspekt. Nach langem qualvollem Suchen, als wir beinahe schon bereit waren, in Berlin zu überwintern, stießen wir plötzlich auf unsere
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