Es geht auch anders
hatte ich zu den beliebten Schülern gehört, war immer gut gelaunt, quirlig und lustig gewesen. Plötzlich aber geschahen merkwürdige Dinge. »Herr Lehrer, darf ich mich von Gerhard wegsetzen? Der stinkt so nach jüdischen Schweißfüßen!« Kinder sind viel unmittelbarer und brutaler als Erwachsene; solche Ablehnungen taten weh. Ich war zehn Jahre alt. Ich verstand das nicht. Aber ich hatte keine Lust, es als den neuen Normalzustand hinzunehmen.
Am Tag des ersten Fahnenappells rannte ich nach der Schule weinend nach Hause. Erst später verwandelte sich meine Hilflosigkeit in Wut. Beim Mittagessen berichtete ich, was passiert war. Die Reaktion meiner Eltern enttäuschte und verwirrte mich zutiefst. Sie nahmen den Vorfall offenbar nicht ernst! Besänftigend redeten sie daher, das werde sich bald wieder geben, nur jetzt, am Anfang wollten die Nazis demonstrieren, dass sich die Zeiten geändert hätten, und so weiter und so fort.
Was sollte das? Den Fahnenappell gab es doch jeden Tag, und jeden Tag erlebte ich auch, dass frühere Freunde nicht mehr mit mir reden, nicht mehr mit mir spielen wollten. Weil sie »arisch« waren, worüber sich bisher kein Mensch Gedanken gemacht hatte. Und in der Nachbarschaft, nachmittags beim Spielen draußen, teilten sich die Kinder in »arische« und jüdische Grüppchen. Meine Eltern lächelten und beschwichtigten. Und da Margot, die an ihrer Schule eine Menge jüdischer Freundinnen hatte, so etwas nicht erlebte, war ich allein mit meinem Problem.
Eigentlich war das nicht verwunderlich. Politisch standen meine Eltern in der gemäßigten Mitte, so wie sie zur bürgerlichen Mittelklasse zählten. Instinktiv taten sie alles, um sich aus den politischen Wirren der Zeit herauszuhalten. Typisch auch die Einstellung zum Zionismus. Mein Vater tat die Palästinapioniere als arme Irre ab, die sich aus unerfindlichen Gründen in den Sümpfen von Tel Aviv abplagten. »Was wollen die da bloß? Na ja, wir sind Europäer, für uns kommt das eh nicht infrage.«
Im Nachbarhaus lebte eine jüdische Familie; Herr und Frau Cohen engagierten sich beide bei den Kommunisten. Eines Tages im Sommer 1933 sahen wir, wie ein großer SA-Trupp zum Sportplatz marschierte, der nicht weit von der Buschallee entfernt war, und auf dem Weg drang eine Gruppe der Männer in die Wohnung der Cohens ein und prügelte sie heraus. Zum ersten Mal bekam ich eine solche Demonstration von Gewalt und Macht mit. Mein Vater zeigte sich besorgt, aber offenbar war für ihn das Besondere daran nicht, dass die SA eine jüdische Familie attackiert hatte; nachdem er sein erstes Entsetzen überwunden hatte, meinte er: »Na ja, wer sich so kommunistisch gibt wie die, der muss wohl damit rechnen.«
Dass sich die Zeiten änderten, dass auch die Juden – wir! – den Nazis ein Dorn im Auge waren, das wollte er nicht wahrhaben. Wir hatten uns doch nichts zuschulden kommen lassen! Wer sich nicht zum Fenster raushängte, kriegte auch keins auf den Deckel. Auch in dieser Hinsicht unterschied sich mein Vater nicht sehr von vielen »arischen« Bürgern, die nicht sehen wollten, was sich da über unseren Köpfen zusammenbraute.
An der Schule blieben mir drei Freunde. Am liebsten war mir ein schwarzhaariger Rumäne, zwei Jahre älter und natürlich viel größer als ich. Wir spielten gelegentlich eine frühpubertäre Variante des Doktorspiels: Er nahm mich nach dem Unterricht mit in einen Schulkeller, presste sich liebevoll an mich und rieb sich an mir. Bei ihm ging alles in die Hose, und er lief dann nass nach Hause, das machte ihm gar nichts aus. Ich brauchte diese Nähe und Zärtlichkeit, auch wenn ich gar nicht alles begriff, was sich da abspielte. Ein anderer Freund war ein leicht verkrüppelter Junge, der mich immer auf dem Nachhauseweg begleitete. Und der Dritte stammte aus dem Elsass, war im französischen Kulturkreis aufgewachsen und fühlte sich fremd in Berlin. Mit einem Wort: alles Außenseiter. Klaus Schulze, mein Kumpel von der Grundschule, kam in eine andere Klasse, wir verloren uns aus den Augen. Ich fühlte mich allein. Ich hatte keine Lust mehr, und natürlich wurden meine Zensuren auch schlechter.
Immer heftiger bedrängte ich meine Eltern, mich von dieser Schule zu nehmen. Aber sie wollten nichts davon hören. Schließlich waren sie doch froh, dass ich aufs Gymnasium ging, als begabt angesehen wurde, eine Erfolg versprechende Ausbildung bekam. Geradezu zwangsläufig kam ich irgendwann mit den wenigen älteren jüdischen
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