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Es geht auch anders

Es geht auch anders

Titel: Es geht auch anders Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Lotz (Hg.)
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Schülern zusammen, und die erzählten mir, dass es eine »Judenschule« gebe, in der Großen Hamburger Straße.
    Nun hatte ich einen Gegenvorschlag für meine Eltern, wenn sie mir mit der weiterführenden Schulbildung kamen. Mein Vater war entsetzt. Dafür hatte er das Jiddische seiner Familie hinter sich gelassen, war ein guter Preuße geworden – damit sein Sohn in die »Judenschule« lief? Nichts da.
    Ich ließ mir alle möglichen Tricks einfallen, um meine Eltern davon zu überzeugen, wie ernst die Sache war. Einmal zerbrach ich meinen Geigenstock und jammerte, die bösen Jungs hätten es getan, ein anderes Mal sprang ich voll bekleidet in den Teich vor der Mittelschule in Weißensee, die Margot besuchte, und behauptete, ich sei hineingeworfen worden. Ich brauchte eine Zeugin. Triefnass entstieg ich den Fluten, und Margot regte sich furchtbar auf. »Meinen Bruder haben sie in den See geschmissen, das dürfen die doch nicht«, sie machte einen großen Aufstand bei ihren Lehrern. Ich wurde abgetrocknet und nach Hause geschickt. Doch meine Mutter war einfach nicht zu überzeugen, und sie sorgte auch dafür, dass mein Vater mit diesen Klagen nicht allzu sehr behelligt wurde.
    Schon Anfang 1933 hatte sich Heinrich Beck mit Onkel Wolken beraten, ob es angesichts der Nazi-Regierung nicht besser sei, wenn unsere Familie nach Wien zurückkehrte. Doch sie kamen, in weiser Voraussicht, zu dem Schluss, die christliche Familie könnte meinen Vater schützen und ihm über diese Zeit hinweghelfen. Was wussten die beiden damals schon über das Kommende! Der kluge Onkel meinte noch, bei den Preußen werde alles geordneter ablaufen als in Österreich, wo sich der Antisemitismus immer wieder aufs Unkontrollierteste austobte …
    So planten meine Eltern auch für den Sommer 1933 nicht die naheliegende Reise nach Wien, sondern schickten Margot und mich mit dem Zug in den kleinen Kurort Friedrichsroda in Thüringen, zur Familie des Bruders meiner Mutter – es wurden meine letzten unbeschwerten Schulferien außerhalb Berlins. Heinrich und Hedwig hatten dorthin auch ihre Hochzeitsreise gemacht, und Onkel Wilhelm und Tante Dora waren geradezu verliebt in meinen Vater. Wilhelm war ein dicker, harmloser Säufer, die Tante unbeschreiblich hässlich und mager, sie wog ungefähr 37 Kilo, aber sie war genauso lieb und süß wie ihr Mann. Im ersten Brief, den ich nach Hause schrieb, stand wortwörtlich: »Tante Dora ist die mieseste Frau, die ich je gesehen habe, aber die liebste!«
    Danach blieben uns zum Reisen nur noch die Klassenfahrten, mehrmals waren wir eine Woche lang unterwegs. Im Frühling 1934 fuhren wir in die traumhaft schöne Sächsische Schweiz, nach Bad Schandau, nahe der tschechischen Grenze. An einem Nachmittag unternahmen wir eine Wandertour über die Grenze in die Tschechoslowakei. Damals waren gerade braune Wildlederjanker in Mode; in unserer Gruppe hatten neun von fünfzehn Knaben welche an – und die wurden nicht ins Land gelassen! Wegen der Nazi-Farbe. Ich hatte mir dieselbe Art Jacke von meiner Mutter in Grau machen lassen. Unser Klassenlehrer überlegte kurz und beschloss dann, mit uns verbleibenden sechs Schülern trotzdem für ein, zwei Stunden rüberzugehen; die anderen mussten eben so lange auf uns warten. So erlebte ich zum ersten Mal eine Art Privileg, weil ich nicht zu den Braunen gehörte!
    Kurze Zeit später musste ich mit Blinddarmentzündung ins Krankenhaus. Als ich heimkam, hatte sich auch unsere Wohnung in ein Krankenlager verwandelt: Tante Frieda war mit ihrem todkranken Mann eingezogen.
    In den zwanziger Jahren hatte sie den Bankdirektor Heinrich Uhde aus Magdeburg geheiratet, eine hervorragende Partie, sie lebten in einer luxuriösen Villa in Bad Salzelmen, nicht weit von der Stadt. Er war ein liebevoller und weicher Mensch mit einem schönen Gesicht; doch sein großer Kopf ohne Hals saß auf einem Körper, der so bucklig war, dass er kaum laufen konnte.
    Und nun hatten sich all die gesundheitlichen Beeinträchtigungen, die so ein Buckel mit sich bringt, dermaßen verschlimmert, dass der Onkel es kaum noch aushielt. Durch die ständigen schmerzstillenden Spritzen war er schließlich zum Morphinisten geworden; seine Privatbank musste liquidiert werden, er konnte sie nicht mehr führen und verbrauchte zu viel Geld.
    »Onkel Heine« war trotz seiner Qualen immer lieb und geduldig zu uns Kindern; wahrscheinlich habe ich deshalb nie Widerwillen vor buckligen Menschen empfunden. Schon früh merkte

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