Es geht auch anders
um Gemeinschaften, um Gruppen, in denen ich etwas ausrichten und bewirken konnte, die mich anerkannten, mit denen etwas aufzubauen war.
Im Lehrplan unterschied sich die Jüdische Schule himmelweit von meinem alten Gymnasium. Es bestand ein deutlicher, wenn auch unausgesprochener Auftrag: den Schülern nützliches Rüstzeug für die Auswanderung mitzugeben. Also lernten wir Fremdsprachen: Hebräisch, Englisch, Französisch und nachmittags, freiwillig, Spanisch. Das machte mir ungeheures Vergnügen. Deutsch war natürlich weiterhin wichtig. Biologie, Chemie und Physik blieben eher unterbelichtet; damit fiel alles weg, was ich sowieso nicht leiden konnte, Frösche auf Bleiplatten auseinanderzunehmen und so ein Zeug. Prompt wurde ich in der Schule wieder besser.
Dazu kam, nicht zu vergessen, der Sport! Ich war darin nicht schlecht, aber für mich stand dabei das Erotische im Vordergrund. Es gab eine Übung, bei der alle Jungen in einer Reihe hintereinander standen, und der Hinterste musste mit dem Ball zwischen den gespreizten Beinen der anderen hindurchkriechen bis nach vorn, dann der Nächste; na, das waren Aussichten! Oder wenn man an einer Stange hochkletterte und wieder runterrutschte – die Hälfte der Jungs hatte nachher nasse Turnhosen von der Reibung. Das genoss ich wie heute manche Leute Pornofilme.
Mein erstes richtiges sexuelles Erlebnis geschah denn auch beim Sport – mit meinem Sportlehrer. Ich war zwölf, er war zweiundzwanzig. Da er schon nicht mehr studieren durfte, war er als Aushilfslehrer eingestellt worden. Mit einzelnen Schülern trainierte er nach dem offiziellen Unterricht auf freiwilliger Basis. Ich betrieb den Staffellauf weiter, und er wollte mich auch für den Hürdenlauf erwärmen, eigentlich albern bei meinen kurzen Beinen.
An diesem Tag war ich der letzte seiner Schüler. Als das Training beendet war, ging’s unter die Duschen, er in der einen Ecke und ich, schüchtern, am anderen Ende der Duschwand. Er war vor mir fertig, zog sich einen Bademantel an und warf mir ein Handtuch zu. Und in diesem Augenblick überfiel mich eine unbändige Lust: Ohne nachzudenken, was ich da tat, ging ich zu ihm hin und schmiegte mich nackt in seinen Bademantel hinein. Es fiel kein Wort. Zum Glück – ich hätte überhaupt nicht gewusst, was ich sagen sollte; mir war danach, und ich tat es, damit war ich schon genug beschäftigt.
Ich umschlang ihn, merkte, dass auch er erregt war, und genoss dieses Gefühl. Wir streichelten und bewegten uns, gar nicht mal viel, und schon kam es, bei uns beiden. Was mir besonders wohltat, war seine Erwiderung der Zärtlichkeiten, als er seine Arme um meine Schultern legte. Ich hatte ihn überrumpelt, aber als es geschah, wollte er es auch, keine Frage.
Ich lief freudestrahlend nach Hause. »Na, wie war’s heute in der Schule?«, fragte meine Mutter wie immer und warf mir einen prüfenden Blick zu. Ich war unübersehbar glücklich. »Es war sehr schön«, berichtete ich atemlos, »nach dem Training habe ich mich mit dem Lehrer umarmt, im Umkleideraum, das hat sehr viel Spaß gemacht.« So unglaublich es klingen mag, derart naiv war ich.
Wäre irgendetwas mit einem Mädchen aus meiner Klasse gewesen, hätte ich wahrscheinlich Angst gehabt, davon zu erzählen; so weit wussten wir schon Bescheid von jener ernsten Sache, die den Erwachsenen vorbehalten blieb und irgendwie auch mit dem Kinderkriegen zu tun hatte. Aber mit dem Lehrer zärtlich sein, was sollte da schon passieren? Ein Kind konnte ich ja nicht von ihm kriegen.
Meine Mutter reagierte ähnlich verblüffend, nämlich überhaupt nicht hitzig. »Na, so was hab ich mir schon gedacht«, meinte sie ziemlich trocken. Sie kannte ihren Sohn als zart und eher feminin, ich hatte mich nie mit anderen Jungen geprügelt, stattdessen aber oft mit meiner Schwester konkurriert, wer von uns beiden weiblicher war. Außerdem erinnerte sich die Mutter an die Seppl-Puppe, die sie mir geschenkt hatte, und sah meine Entwicklung offenbar als ziemlich folgerichtig an.
Mein Coming-out, wie man heute sagen würde, ergab sich also völlig unverkrampft, fast wie von selbst. Ich verspürte keinerlei »Unrechtsbewusstsein«, dass ich meinen Lehrer unter der Dusche angefallen hatte – es passierte spontan, so als ob mein Hund eine Socke haben will und deshalb draufspringt und daran zerrt.
Mit meinen Eltern habe ich nie offen darüber gesprochen, das war aber auch nicht nötig. Sie wussten Bescheid, und als ich erwachsen war, in Israel,
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