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Es geht auch anders

Es geht auch anders

Titel: Es geht auch anders Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Lotz (Hg.)
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ich, wie zärtlich und liebebedürftig sie sind, weil die meisten Mitmenschen sie ablehnen. Später begegnete ich noch oft buckligen oder verkrüppelten Männern, auch sexuell, da habe ich nie Berührungsängste gehabt.
    Als unser Onkel bald nach dem Umzug im Sterben lag, waren wir alle schrecklich aufgeregt; wir wollten doch seine Morphiumabhängigkeit nicht an die große Glocke hängen. Meine Eltern riefen Dr. Neumann an, der inzwischen zum Vollnazi geworden war. Er kam, um den Kranken zu untersuchen, und merkte natürlich sofort, was mit ihm los war. Zudem lagen neben dem Bett lauter Ampullen und Spritzen.
    Er warf meinen Eltern einen finsteren Blick zu und schimpfte: »Seid ihr denn wahnsinnig, einen Morphinisten aufzunehmen? Schafft den Mann hier raus, so schnell es geht, ihr seid doch ein Judenhaushalt, was glaubt ihr, was ihr für Schwierigkeiten kriegen könnt!«
    Er besorgte einen Krankenwagen, der Onkel konnte nicht mal liegen, sondern musste sitzend transportiert werden, und als sie im Hospital eintrafen, war er tot. Unterwegs gestorben. Neumann unterschrieb den Totenschein und half uns damit richtig aus der Patsche – ganz gleich, was für ein Nazi er sonst sein mochte.
    Es geschah beim Sportfest der Schule im Sommer 1934. Ich lief in einer 4-x-60-Meter-Staffel mit, und zwar als letzter Läufer.
    Der Lehrer stand im Ziel, und ich rannte als Erster an ihm vorbei. Meine Staffel hatte gewonnen! Die Begeisterung war groß, ich war stolz wie Oskar, und meine Mutter auf der Tribüne sicher auch. Der Lehrer fing mich aber gleich ab und zischelte mir zu: »Du weißt, du darfst nicht mit aufs Siegertreppchen!« Er schaute etwas hilflos und bedauernd drein, aber er konnte nichts machen, ich durfte nach seinen Vorschriften als Jude wirklich nicht mitgeehrt werden. Für mich brach eine Welt zusammen. Ich war als Erster durchs Ziel gelaufen und durfte nicht mit den anderen da oben stehen … Der Lehrer wandte sich ab, ging zu den anderen dreien und suchte unterwegs noch einen Vierten aus, der an meiner Stelle aufs Podest stieg.
    Meine Mutter, die mit Tante Trude auf der Tribüne saß, sah es und versteinerte. Jetzt hatte sie begriffen. Am nächsten Tag stürmte sie zum Direktor meiner Schule: »Ich lasse mein Kind nicht zerbrechen!« Der Schulleiter war ein vernünftiger Mann. »Frau Beck, wir haben nicht viel Spielraum. Wissen Sie, ich habe meine eigenen Kinder aufs Französische Gymnasium geschickt, das ist die einzige Schule in Berlin, wo noch ein unvoreingenommener, neutraler Unterricht stattfindet. Schauen Sie sich um, wo Sie Ihre Kinder anmelden können, ich rate es Ihnen.«
    Dieser Mann gab kurze Zeit später die Schulleitung an einen Nazi ab. Meine Mutter schickte mich endlich, nachdem ich ein Jahr lang darum gekämpft hatte, auf die Jüdische Schule in der Großen Hamburger Straße – das war meine Rückkehr ins Scheunenviertel.
    Bis jetzt war meine Erziehung und Entwicklung wesentlich stärker christlich als jüdisch geprägt gewesen; das Jüdische hatte sich bei uns auf Feiertage und den Religionsunterricht beschränkt, zu dem Margot und ich an mehreren Nachmittagen in der Woche von unseren nichtkonfessionellen Schulen aus pilgerten. Ich mochte diese Stunden im Übrigen ganz gern, auch wenn meine religiösen Gefühle sich stark in Grenzen hielten.
    Auf der »Jüdischen Mittelschule für Jungen und Mädchen« fühlte ich mich auf Anhieb wohl. Geprägt von meinen Erfahrungen orientierte ich mich einfach in die Richtung, die uns blieb, die jüdische. Meine Schwester vollzog das nicht so schnell mit; sie blieb bis 1936 auf ihrer Mittelschule und trat dann eine Lehre an. Sie empfand weder den Druck der Nazis noch den verlockenden Ausweg in die jüdisch geprägte Umgebung so stark und so früh wie ich. Meine Mutter litt schrecklich unter diesem Verlust der gemeinsam aufgebauten christlich-jüdischen Welt. Ich war in unserer Familie der Erste, der deutlich machte: Nun bleibt uns nur noch der jüdische Weg, und den gehe ich.
    Alles, was sich im letzten Jahr am Gymnasium Weißensee an Depressionen angesammelt hatte, löste sich jetzt auf, nein, mehr als das: In mir verstärkte sich die Lust, zu lernen, hineinzuwachsen in eine Gemeinschaft, die mir entsprach, in die ich gehörte und wo meine Integration mit keinerlei Fragezeichen versehen war. Spätestens zu diesem Zeitpunkt zeigte sich, dass ich kein Einzelgänger oder Einzelkämpfer bin, der sich gern allein in feindlicher Umwelt behauptet; mir ging es immer

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