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Es geht auch anders

Es geht auch anders

Titel: Es geht auch anders Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Lotz (Hg.)
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Berlin.« In dem Sinne lag Berlin weiter entfernt von Flensburg als Flensburg von Berchtesgaden.
    Hier war man sicher vor der Vergangenheit. Die alten Bekannten, denen man versprochen hatte, dass man mit ihnen in Kontakt bleiben wolle, verschwanden immer weiter im Nebel des Vergessens. Gegenüber der Verwandtschaft, deren Einladungen zu Geburtstagsfeiern und Hochzeiten den ägyptischen Plagen gleich die heimatlichen Briefkästen heimgesucht hatten, konnte man sich hier mit dem weiten Anfahrtsweg zu den Örtlichkeiten der Familienfestivitäten entschuldigen. Die Verwandtschaft selbst scheute die Passage durch die kommunistisch verseuchte See. Sie hatte Angst vor den Kontrollen beim Ein- und beim Ausschiffen und fürchtete die Piraten der Volkspolizei, die bei Geschwindigkeitsübertretungen von den Passagieren die Beute forderten.
    Wer hier, in einer Stadt ohne Zukunft, auf der Flucht vor der Vergangenheit gestrandet war, ging in der Gegenwart auf. Man hatte keine Zeit mehr, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen. Man war zu beschäftigt mit der Gegenwart, um an die Zukunft zu denken. Man lebte intensiver und schneller als in jener zähen, intoleranten Masse, die man früher mal als seine Heimat bezeichnet hatte.
    Die Berliner Toleranz ist nur ein Mythos. Die Berliner sind viel zu schlampig und zu faul, um intolerant zu sein. Zur Intoleranz gehört sehr viel Energie – Energie, um Verfolgungsarbeit leisten zu können. Die Schwaben haben diese Energie. Die Berliner haben keine Zeit.
    Hermann, der mich am Bahnhof abholte, lehrte mich sofort, dass ich auf der Rolltreppe rechts zu stehen habe, damit die Leute an mir vorbeieilen könnten, um dann eben eine Minute länger auf dem Bahnsteig auf die U-Bahn zu warten.
    Es war ebenjener Hermann, dessen Leidenschaft für Film und Fernsehen ihn nach Berlin getrieben hatte. Er wohnte zusammen mit der altbekannten Gaby Trunk, die es nach dem Berlin-Kolleg zur Journalistin gebracht hatte, im Wedding in der Pankstraße 79. Hier fand ich meinen ersten Unterschlupf.
    Die Wohnung lag im Erdgeschoss. Das erste Zimmer war mit einer Matratze, einem Bücherregal und einem großen Fernseher eingerichtet. Hier wohnte offensichtlich Hermann. Als ich ins nächste Zimmer kam, wurde ich von einer Hausbar optisch und von zwei Papageien akustisch fast erschlagen.
    Veritable fünftausend Mark Abstand habe sie dem Vormieter, der offensichtlich ein Faible für das Rustikale gehabt haben musste, für diese Hausbar zahlen müssen, berichtete Gaby voller Stolz. Und die Papageien seien ganz liebe Tiere, die Lupo und Bonewike hießen. Nur der eine sei ab und zu mal etwas laut, umschrieb Gaby die Tatsache, dass das Vieh in viertelstündlichen Abständen wie am Spieß schrie. Dafür könne der andere ganz lieb »Du bist verrückt, mein Kind« pfeifen. Sie forderte zum Beweis das grüne Monster dazu auf. Lupo schien jedoch in Streikstimmung zu sein.
    Mir war das Berliner Zimmer, das als Durchgangszimmer zur Küche diente, als Domizil zugedacht. Es hatte nur ein einziges Fenster, das obendrein zum Hof führte. Es war so dunkel, dass man auch tagsüber das Licht anschalten musste.
    Im Hof selbst waren viele Holzbretter gestapelt. Denn wir wohnten neben einer Sargtischlerei und konnten beim Frühstück mittags den Transporteuren beim Verladen der Särge, die für das nahe Krematorium Wedding bestimmt waren, zuschauen. Das einzig Schöne an der Wohnung war das Bad, das ich sofort benutzte.
    Für den Abend war eine Silvesterfete in der AHA geplant. AHA stand für Allgemeine Homosexuelle Arbeitsgemeinschaft Berlin und war, wie Hermann mir erklärte, von Abtrünnigen der HAW gegründet worden. HAW wiederum stand für Homosexuelle Aktion Westberlin und war mir aus der Zeit des Freiburger Tuntenstreits ein Begriff. Aufgrund der Namen schloss ich, dass die HAW-Leute sich von den AHA-Leuten darin unterschieden, dass die einen arbeiten wollten, während die anderen Aktionen planten.
    Als wir die Räume der AHA in der Friedrichstraße betraten, standen mehrere Typen an der Bar, die nicht wussten, was sie wollten, aber dies mit aller Entschiedenheit. So sah also die Berliner Schwulenbewegung aus, vor der wir in der Provinz immer so viel Respekt gehabt hatten.
    Ich wurde den Versammelten von Hermann vorgestellt. Die Keiler beschnupperten den Frischling. Wir langweilten uns Mitternacht entgegen. Zum Jahreswechsel 1980/81 wurde sehr viel geherzt und geküsst. Für fünf Minuten herrschte allgemeine homosexuelle

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