Es geht auch anders
bis 23 Uhr, immer am gleichen Platz, ihren Verzehrdienst leistete. Ohne dass sie sich zu einer Bestellung hätte geruhen müssen, brachte ihr der Kellner das Bier und einen Kübel mit Eiswürfeln. Denn sie pflegte ihr Bier mit Eis zu trinken. So saß sie da, wie sie es schon Dekaden getan hatte, und beobachtete und lauschte. Wie viel Liebesschwüre sie wohl schon gehört hatte, die gebrochen wurden? Wie viel ewige Ehen sie wohl hatte verfolgen können, die dann wieder im Lokal geschieden wurden? Nur ab und zu lieh sie einem der Untertanen das Ohr, wenn er von seinen gerade aktuellen Liebesproblemen sprach, und gewährte ihm die Gunst ihres Ratschlags. Sie war so mit dem Lokal verwachsen, dass der Wirt später, es war kurz vor ihrem Tod, ihren Stammplatz mit dem Schild »Ehrenplatz für unsere Ria« schmückte. Sie sei immer hier, grollte sie irgendwann einmal, weil ihr Mann immer zu Hause vor dem Fernseher einschlafe. Und was solle sie mit einem Mann, der immer schlafe?
Den Neulingen in der Berliner Szene gilt, wenn man nicht gerade aussieht wie Quasimodo, die besondere Fürsorgepflicht der Altvorderen. Sie erteilen einem gute Ratschläge, warnen einen vor den Gefahren des Berliner Lebens und ermahnen einen, nicht unter die Räder zu kommen, in der Hoffnung, am gleichen Abend das erste Rad zu sein. Ich sammelte Räder.
»Auf einem alten Rad lernt man fahren«, lautet ein Pfälzer Sprichwort. Helmut war schon einundvierzig. Mit »alt« bezeichnete ich damals, ich ging ja mit meinen siebenundzwanzig Jahren schon auf die dreißig zu, wohlweislich erst Männer über vierzig. Er war schon seit über zwanzig Jahren mit der Berliner Szene vertraut, und ich ließ mich von ihm in die schwule Gesellschaft einführen. Er nannte mir die Lokale, in denen nach seiner Meinung etwas geboten wurde und die des Besuches würdig waren. Er sagte mir, ab wann und bis wann in dem betreffenden Lokal etwas los sei und ab wann man das Lokal zu wechseln habe. Er klärte mich über die Reihenfolge auf, in der die Schwulen die Lokale nacheinander abhakten, um den allabendlichen Prinzen zu suchen und manchmal sogar zu finden. Er gab diesem Zug durch die Gemeinde den Namen »Golfstrom«, der ja bekanntlich ein warmer Strom ist.
Er zeigte mir Elli’s Bierbar . Er hatte mir gesagt, dass dieses Lokal seit den zwanziger Jahren existiere und schon von Marlene Dietrich und Ernst Röhm besucht worden sei. Ob das stimmte, konnte ich nicht beurteilen, als wir das Lokal betraten. Zumindest schien es mir sehr glaubwürdig, dass Elli’s Bierbar seit 1949 nicht mehr renoviert worden war. Hinter der Theke stand eine alte Frau in Motorradjacke, die mit Sicherheit schon in den zwanziger Jahren aktive Lesbe gewesen war. An einem Tisch links neben dem Eingang saß, völlig unpassend zur sonstigen Einrichtung, eine schmuckbehängte Frau in einem Nerzmantel. Zwei devote Herren boten der ungefähr Sechzigjährigen, deren Versuch, wie vierzig zu wirken, offensichtlich gescheitert war, Zigaretten an. Sie ließ sich huldvoll Feuer geben. Helmut raunte mir zu, dass es sich bei dieser Dame um die ehemals berühmte Loni H. handele.
Im Gang zwischen Tresen und Tischen tanzten eng umschlungen zwei Frauen. Sie wirkten wie Rentnerinnen, die versucht hatten, sich der damaligen Punkmode anzupassen: Rote Strumpfhosen waren über die Krampfadern gezogen und schauten unter einem lila Rock hervor, über den sich ein grüner Pullover spannte. Die eine von ihnen hielt während des Tanzens eine Plastiktüte mit der Aufschrift »Bolle« fest in der Hand. Ich vermutete in ihr eine Wodkaflasche. Ein Zahnloser erzählte uns am Tisch von seinen Erlebnissen, die er damals, in den sechziger Jahren, gehabt habe. Nach seinem Aussehen zu urteilen war ich sicher, dass er in den sechziger Jahren bereits die Funktion eines zahlenden Freiers gehabt haben musste und seine Erlebnisse als Stricher wohl eher aus der Zeit der vierziger Jahre herrührten. Nein, das war nicht Punk. Das war Urpunk. Elli’s Bierbar war mein erstes Berliner Punklokal.
… und weiter geht’s:
Napoleon Seyfarth
Schweine müssen nackt sein
Ein Leben mit dem Tod
Mit einem Nachwort von Peter Süß
ISBN 978-3-86034-505-4
Georgette Dee
Gib mir Liebeslied
Nach einem Auftritt 1984 beim städtischen »Kulturzirkus« in Nürnberg war Terry schon abgereist und ich zu einer Freundin nach Schleswig-Holstein aufs Land gefahren. Am nächsten Tag rief jemand aus Nürnberg an und sagte, ich müsse sofort zurückkommen. Da sei ein
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