Es geht uns gut: Roman
Silvester im letzten Jahr. Da wehte kein Lüftchen, und der Rauch der gezündeten Raketen blieb auf der Terrasse stehen und wurde immer dichter, bis Herr Andritsch und seine Gehilfen (zuletzt Peter, nachdem der Andritsch-Bub das Handtuch geworfen hatte) inmitten der Batterien aus Getränkekisten und Feuerwerkskörpern nur mehr als verschwimmende, lallende Schemen auszumachen waren. Es kommt Ingrid vor, als habe sie übers Jahr nicht so mit dem Bauch gelacht wie zu Silvester 1969 beim Anblick dieser eingerauchten und hustenden Männer. Im Gedröhn des Mitternachtswalzers und der heftig schwingenden Kirchenglocken und unter den hellen Funken- und Gelächtergarben brachten sie ihre Mission unverdrossen zu Ende. Donau so blau, so blau –.
Cara kommt zu Ingrid auf die Couch und bohrt ihre kalte Schnauze in Ingrids linke Achselhöhle, die ledrigen Vorderpfoten auf Ingrids Schenkeln und in ihrer Hand. Draußen kracht es wieder heftig. Es hört sich an, als würden die Nachbarskinder Cola-Dosen in die Luft sprengen, mag sein, es ist der eine oder andere Briefkasten betroffen. Ehe es richtig arg wird, sollte Ingrid Cara nochmals Baldrianperlen verabreichen und sie dann in den Keller sperren.
– Hast du gute Vorsätze fürs neue Jahr? will Peter wissen.
– Gute Vorsätze? Das ist Opium für die Unglücklichen, erwidert Ingrid. Sie streichelt den Hund. Nach einer Weile sagt sie:
– Weißt du, die guten Vorsätze haben auch im abgelaufenen Jahr nichts geholfen, die erstbeste Hürde hinter Dreikönig haben wir gerissen.
Peter murmelt betreten, aber ohne zu widersprechen, vielleicht weil er die richtigen Worte nicht findet. Man kann ihm aber anmerken, daß gute Vorsätze für ihn tröstlich wären.
Er hockt neben ihr, vorgekrümmt, rollt seine Zigarette zwischen den Fingern, mit vorgeschobenen Lippen. Er widmet sich eine Weile dem Fernseher, lacht sogar mehrmals, wie zweigeteilt, denn nachher, nachdem er eine Weile gewartet hat, richtet er sich auf und will darüber sprechen, wie es weitergehen soll. Ingrid, die ebenfalls raucht und dem Rauch ihrer Zigarette nachblickt, ruhig von den wechselnden, belanglosen Bildern im Fernsehen, antwortet freundlich, sie habe ihm vorgestern alles gesagt, es gebe nichts hinzuzufügen.
Peter meint dann noch, es falle ihm schwer, sich mit ihrer Position abzufinden. Sie münzt das um auf sich, ihr gehe es umgekehrt genauso. Peter drückt seine Zigarette aus und sitzt da mit den Händen in den Hosentaschen, die Schultern hochgezogen. Ingrid reicht ihm verbal den einzigen Strohhalm, der zwischen ihren Fingern noch irgendwie Substanz hat:
– Es ist ein Erfolg, daß wir dieses Jahr überstanden haben. Das kommende kann eigentlich nur besser werden.
Immerhin: Wünsche für das Jahr 1971 hätte sie schon. Wünsche. Die hat man immer, obwohl man sich auch die am liebsten abgewöhnen würde.
Eine Feststellung, nichts weiter.
Ende des Lateins.
Von ihrer Übernächtigkeit hat sie ein schläfrig summendes Gefühl in den Zähnen und einen schleierartigen Schmerz hinter der Stirn. Ihre Gedanken verschwimmen um so mehr, je länger sie dasitzt. Aber eins steht ihr klar vor Augen: Sie ist keinesfalls bereit, ihren Beruf aufzugeben. Da gibt sie nicht nach. Sie liebt ihren Beruf. Es ist der Beruf, den sie haben wollte. Sie mag es, das Spital zu betreten, sich bis auf die Unterwäsche auszuziehen und dann in die weißen Hosen und den weißen, knielangen Mantel zu schlüpfen. In der Dienstkleidung fühlt sie sich als moderne, selbständige und kräftige Frau. Ihre Schrift in den Krankenakten. Der Umgang mit den Patienten und dem Personal. Sie gefällt sich dabei, es entspricht ihrem Gefühl von sich selbst, es ist das, was sie braucht.
Inzwischen ist es halb sieben, und sie hört die Kinder oben nach wie vor herumlaufen. Ihre kleinen trappelnden Schritte, die den Lampenschirm zum Erzittern bringen, wenn sie einander von einem Zimmer ins andere jagen.
Donnerstag, 31. Mai 2001
Gegen Morgen hat Philipp einen Traum: Er ist Arbeiter auf der Kolchose Sieg des Kommunismus und begegnet dort Atamanovs Braut, die als Operateurin der mechanisierten Melkung arbeitet. Operateurin der mechanisierten Melkung . Der Ausdruck verblüfft Philipp noch im Traum und scheint in seiner sonderbaren Gestelztheit alles, was sich sonst noch zuträgt, von vornherein zu verbürgen: Daß die Frau Asja heißt, und warum auch nicht, sie befinden sich in der Ukraine, im Landkreis Kriwoj Rog. Dort fängt Philipp ein Verhältnis
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