Es geht uns gut: Roman
Sache mit der Selbstbehauptung hat Ingrid das ziemlich falsch eingeschätzt. In Wahrheit war es eine Fortsetzung des Tschick-Sammelns in der Erbsenzeit, ein während der ersten Nachkriegsjahre entstandenes, aus der Not geborenes, völlig ineffizientes, letztlich sinnloses Unternehmen, mit dem Peter sich beschäftigte, um größeren Plänen aus dem Weg gehen zu können.
Wer kennt Österreich?
Ingrid denkt: So langsam, doch, so langsam mache ich mir ein Bild.
Sie seift den Kindern die Köpfe ein und spült ihnen das feine, leichte Haar, wie es schon ihre eigene Mutter gemacht hat, als Ingrid und Otto gemeinsam in der Wanne saßen. An Otto erinnert Ingrid sich nicht mehr sehr gut. Aber sie weiß noch, daß ihre Mutter Otto Waschbär nannte und sie (Ingrid, Gitti) Iltis . Sie nennt Philipp Waschbär und Sissi Iltis . Die Kinder stoßen ihre schrillen Lacher aus, und weil Ingrid vom Dienst und vom Spaziergang ziemlich geschlaucht ist und weil sie von der Kälte ein wenig Kopfweh hat, überredet sie die beiden zu einem Wettbewerb, wer länger untertauchen kann. Die Kinder halten sich die Nasen zu und saugen auf Fertig!Los! mit aufgerissenen Mündern die Luft ein. Ehe sie mit den Hintern zur Badewannenmitte rutschen und mit den Oberkörpern unter Wasser fallen, kneifen sie fest die Augen zu. Ihre Gesichter mit den trompeterdicken Wangen sehen unter Wasser schlierig aus, verschwommen durch die Seife, perspektivisch vergrößert. Ingrid denkt an Fische, die man unter einer Brücke schwimmen sieht. Das Kreischen der Straßenbahn auf der Pötzleinsdorfer Straße ist jetzt ebenso vernehmbar wie das Ticken in der Gastherme.
Sie wiederholen das Spiel mehrmals. Einmal rufen die Kinder etwas unter Wasser, hinterher wollen sie wissen, ob Ingrid verstanden hat, was.
– Donaudampfschiffahrtsgesellschaftskapitän?
– Nein! kreischt Sissi.
– Also noch einmal.
Ingrid sitzt neben der Badewanne, sie nimmt einen Schluck vom Kaffee. Die Luftblasen platzen an der Wasseroberfläche. Dumpf und entstellt steigen die Stimmen der Kinder zu Ingrid auf und trotzdem verständlich.
– Popocatepetl?
– Nein!
Es plätschert alles so dahin, aber es plätschert sehr rasch. Es vergeht. Die Zeit ist einfach weg. Was habe ich gemacht? Die letzten sechs Monate? Im letzten Jahr? Bei den Kindern hat sich viel getan. Sissi kommt im nächsten Jahr ins Gymnasium, Philipp in die Schule, dann ist auch er aus dem Gröbsten raus. Aber bei mir? Alles, was geschieht, hat mit den Kindern zu tun. Die Jahre ordne ich Dingen zu, die nur indirekt mich betreffen. Früher habe ich Peter kennengelernt, und im nächsten Jahr habe ich maturiert, und in dem einen Jahr war meine erste Fehlgeburt, und wieder in einem anderen Jahr bin ich von zu Hause ausgezogen, und irgendwann habe ich promoviert. Jetzt werden die Kinder eingeschult und haben Scharlach undsoweiter. Und ich : lebe so nebenher.
Die Kinder müssen ihre Geschlechtsteile waschen, währenddessen erzählt Ingrid, daß im Tiergarten zu der Zeit, als Peter dort als Fotograf arbeitete, ein Seehund eingegangen ist, nachdem er den Fotoapparat eines sowjetischen Soldaten verschluckt hatte. Die sowjetischen Soldaten hätten Schlitzaugen gehabt wie Der kleine Wassermann in Philipps Lieblingsbuch (sein Haar, ob es grün ist? von Wasserlilien durchzogen, wenn er auf moosigen Karpfen zwischen Algenbäumen reitet).
Die Kinder sind beeindruckt, sie tauchen nochmals unter. Ingrid soll die Zeit nehmen. Sie sitzt da, ihr Blick ist auf die Uhr gerichtet, zehn Sekunden sind vergangen. Gleich wird Philipp hochschießen, daß das Wasser an alle Wände spritzt, und keuchen, ganz erschöpft und enttäuscht, daß ihn Sissi schon wieder geschlagen hat.
Es ist vielleicht das letzte Mal, daß die Kinder um die Wette tauchen, denkt Ingrid. Unten klingelt derweil das Telefon. Peter ruft nach ihr, und noch ehe die Kinder aus dem Wasser hochkommen, läuft Ingrid aus dem Bad und die Treppe hinunter. Sie geht davon aus, daß der Rest von dem, was an den Kindern noch schmutzig ist, von selbst sauber werden wird, indem es einweicht.
Es ist ihr Vater, der seine Glückwünsche zum Jahreswechsel deponiert, die Stimme belegt von all dem, was zwischen ihnen je gesagt worden ist, ergänzt um manches Wort, das er mit Peter gewechselt hat. Er beklagt sich im Auftrag von Alma (wie er behauptet), daß Ingrid zu Weihnachten nicht gekommen ist.
Ingrid klemmt den Hörer zwischen Ohr und Schulter und wischt sich die feuchten Hände am Kleid ab.
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