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Es geht uns gut: Roman

Es geht uns gut: Roman

Titel: Es geht uns gut: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arno Geiger
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zum Essen hat er noch eine Stunde Zeit, und wie schon die Tage zuvor achtet er dort, wo er beim ständigen Wechseln der Kanäle länger verweilt, genau auf das, was geredet und verlesen wird. Vielleicht, so sagt er sich, begegnet ihm irgendwo ein Satz, den er Johanna gegenüber verwenden oder der ihm in einem anderen Zusammenhang nützlich sein kann, Steinwald und Atamanov gegenüber, im Gespräch mit der Postbotin, in Betrachtung eines der Fotos, die im Schlafzimmer der Großmutter über der Frisierkommode hängen. Er braucht sehr viele Sätze.
    Ich bin noch zu klein für deine Gute-Nacht-Geschichten. Es wird etwas förmlich, ziehen Sie etwas Dunkles an. Warum hast du das nicht gleich gesagt? Da kann man nicht so einen Clown reinlassen. Auch für die Pipi-Sätzchen drängen junge Kollegen nach, und peu à peu werden auch die Solohuster abnehmen. Aber es reicht, Edda, Schluß mit dem Herumgeseiere, reiß dich zusammen! Guten Abend, Johanna sagt uns, wie das Wetter wird. Er braucht dringend einen Arzt! Lassen Sie mich durch! Wenn du jetzt nicht gehst, werfe ich dich hinaus, und wenn mir das nicht gelingt, hole ich jemanden, der mir hilft. Morgen muß ich wieder zurück und habe noch gar kein Gefühl dafür. Wer gewinnt? Keiner, die eine Seite verliert nur langsamer als die andere. Das ist genau das richtige Wort. Ich möchte nicht um jedes Paar Strümpfe bitten müssen. Augenblickmal, das ist von nun an deine Geschichte, nicht mehr die unsere. Zerbrich dir nicht meinen Kopf. Leg dich schlafen, dann geht das vorbei. Alles verlockt zur Trägheit. Regenwahrscheinlichkeit 60 Prozent. Wind aus nordwestlicher Richtung. It’s a crying shame. Man sagt zwar, es kämen opernhafte Stellen darin vor, aber das ist spitzfindig.
    An einer Klowand auf der Uni hat Philipp einmal den Satz gelesen:
    Einst hörte ich eine Trompete blasen, doch wußte ich nicht, was dies zu bedeuten hatte.
    Solche Dinge fallen ihm wieder ein.
    Beim Abendessen reden sie über Philipps Beule, und Steinwald gibt ein paar Unfälle zum besten, die er am Bau erlebt oder erzählt bekommen hat. Am meisten beeindruckt Philipp ein verlorenes Auge. Bei einem Reifenplatzer an einem vollbeladenen LKW sei unter dem Druck der austretenden Luft ein Kiesel mit solcher Wucht in das Auge eines Arbeiters geschleudert worden, daß der Arbeiter das rechte Auge verloren hat. Diese Erzählung macht Philipp ganz baff. Er versinkt in Gedanken an riesige Sattelschlepper und Augenklappen und Seeräuber und Filibustiere, die Töchter polnischer Grafen entführen, und sagt für eine Weile gar nichts. Aber später, als er im Bett liegt (als er von fern einen der Arbeiter die Querflöte blasen hört, spaßeshalber), ist er froh um seine Kopfverletzung und sucht nach einer Lage, in der er die Beule spürt, ohne Schmerzen zu empfinden.
    Zu spät kommt ihm in den Sinn, daß auch er eine Lastwagengeschichte auf Lager hat. Jetzt ärgert er sich, daß er es versäumt hat, die Geschichte anzubringen, wo es so schön gepaßt hätte. Obwohl Steinwald und Atamanov noch nicht zu Bett gegangen, sondern im Obergeschoß mit dem Gestalten ihrer Zimmer beschäftigt sind, widersteht Philipp dem Bedürfnis, nochmals aufzustehen. Aber damit er die Geschichte beim nächsten Abendessen verläßlich parat hat (ihm fällt ein, daß auch Johanna die Geschichte noch nicht kennt), erzählt er sie sich selbst, bestimmt vier oder fünf Mal, in verschiedenen Ausführlichkeiten:
    In allen Versionen ist er sechzehn und läuft von daheim weg. Einmal nimmt ihn ein finnischer Lastwagenfahrer Richtung Griechenland mit, ein andermal ein burgenländischer Lastwagenfahrer Richtung Frankreich. Beide Fahrer manövrieren ihre Sattelschlepper mitten in der Nacht auf einen kleinen Parkplatz und legen sich über das Lenkrad in der Absicht, für eine Stunde zu schlafen. Von da an läuft die Geschichte immer präzise nach dem gleichen Schema ab: Im Gegensatz zum Fahrer hat Philipp keine Lust zum Schlafen, weil er nicht sonderlich müde ist. Außerdem ärgert er sich, daß die Standheizung auf vollen Touren läuft und ihm der Fahrer aus Sorge um seinen Nacken, den er sich leicht verkühlt, verboten hat, das Fenster zu öffnen. In der Kabine herrscht eine erniedrigende Hitze. Philipp schaut gelangweilt Richtung Autobahn, auf die Lichter, die sich in die Dunkelheit bohren. Nach einiger Zeit kommt ein zweiter Sattelschlepper auf den ansonsten leeren Parkplatz und parkt unmittelbar vor ihnen ein. Der hinzukommende Sattelschlepper setzt

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