Es geht uns gut: Roman
Seit Peter und ihr Vater beim Auseinanderbauen der Wohnzimmermöbel handgreiflich geworden sind, hat sich der Kontakt zwischen dem dreizehnten und dem achtzehnten Bezirk auf ein Minimum reduziert.
– Weihnachten ist ein Fest des Friedens, Papa.
Ingrid ist nicht unfreundlich, aber hörbar distanziert.
(Das Singen, das Umarmen, das Küssen, das Die-Dankbare-Spielen und die blöden scheinheiligen Reden, sie will das alles nicht.)
– Und ich brauche meinen Frieden ganz besonders.
Ihr Vater seufzt nachsichtig. So milde hat sie ihn schon lange nicht mehr erlebt. Er spricht eine weitere Einladung für den Neujahrstag aus. Doch da Ingrid auch das neue Jahr abseits der Pyrotechnik nicht mit Familienböllern und Knalleffekten beginnen möchte, stellt sie einen Besuch erst im Anschluß an den nächsten Nachtdienst in Aussicht.
Sie sagt es gleich:
– Ich komme besser allein.
Peter muß sie gar nicht fragen, und die Kinder, die sich bei den Großeltern langweilen, können das Schispringen genausogut zu Hause anschauen.
– Mutter wird enttäuscht sein. Sie würde die Enkel gerne wieder einmal sehen.
Nach einer Pause fragt er:
– Geht es dir gut?
– Ich denke, ja, so halbwegs. Ich bin halt ohne Unterbrechung beansprucht. Nichts Neues.
– Du mußt dich mehr schonen, rät Richard.
– Ich mich? Eher man mich.
Aber darauf geht ihr Vater nicht ein.
– Weißt du schon, auf welches Fach du dich spezialisieren wirst, wenn du mit dem –?
Das Wort Turnus fällt ihm nicht ein, und nach einiger Zeit sagt er:
– Mit dem post-graduate fertig bist?
– Gynäkologie.
(Wenn überhaupt.)
Er lacht. Ingrid hat den Eindruck, er will seinen überlegenen Humor demonstrieren, indem er sagt:
– Ich bin aufrichtig dankbar, sagen zu können, daß ich zwei Fächer bislang nicht in Anspruch genommen habe, die Gynäkologie und die Psychiatrie.
Anschließend redet ihr Vater eine Weile über den Linksruck nach der letzten Wahl, über den sich Alma insgeheim freue. Er läßt einfließen, daß diese Entwicklung ihm keineswegs, wie man vermuten könnte, das Gefühl gebe, er habe den Sinn seines Lebens verfehlt. Mittlerweile seien die einen wie die andern. Er berichtet von der Situation innerhalb der Partei. Die meisten Geschichten hört Ingrid zum zweiten oder dritten Mal, sie sagt aber nichts und hört sich alles brav an, das tut nicht weh. Einer der Vorteile der Jahre, die sie mit Peter verbracht hat, ist der, daß sie ein gewisses Gespür für das andere Geschlecht entwickelt hat. Niemand besser als ihr Vater, um das Gelernte anzuwenden.
Es vergehen fünf Minuten, dann gelingt es Ingrid, die Langatmigkeit der väterlichen Ausführungen freundlich abzuwürgen mit der Frage, was er zu Weihnachten verschenkt habe.
– Mama einen Safe von Wertheim und mir einen Feuerlöscher fürs Auto.
Das wird auch immer origineller. Aber immer noch besser als bei ihr, wo nur Dinge geschenkt werden, die ohnehin fällig sind.
– Übrigens, sagt Richard, Mutter läßt fragen, ob du genug Handtaschen hast.
– Man kann nie genug haben.
– Ja, natürlich.
Funkstille.
Peter kommt vorbei, auf dem Weg zwischen Wohnzimmer und Küche. Er berührt Ingrid am Hals. Es läuft ihr kalt den Rücken hinunter; ob angenehm oder unangenehm, kann sie nicht sagen. Ihr scheint aber, Peter ist eigens deshalb vom Fernseher aufgestanden.
Richard fragt:
– Und was macht ihr heute abend?
– Die Einladung an den Semmering, zu der sich Peter hat breitschlagen lassen, ist ausgefallen, weil dort alle krank sind. Wenn die Kinder jetzt noch zwei Stunden schlafen, gehen wir zum Chinesen, sonst bleiben wir zu Hause.
– Wirst du eine Ente essen?
Sie bläst hörbar die Luft aus.
– Weiß nicht, ich denke, ich habe noch Zeit mit meiner Wahl, bis ich im Lokal vor der Karte sitze.
– Na ja, wozu geht man zum Chinesen, wenn man keine Ente ißt?
Diese Art von Kritik ist Ingrid zu hoch beziehungsweise schüttelt sie derartige Kommentare mittlerweile ab, und übrig bleibt: Der Mann ist nicht mehr zu ändern, der wird nur immer noch besserwisserischer (und kann ihr den Buckel runterrutschen).
Oben rufen die Kinder, daß sie fertig sind.
– Sag Mama schöne Grüße und Prosit Neujahr.
– Mama will mit dir reden. Ich gebe sie dir.
– Hallo, Ingrid?
– Mama? Ich muß jetzt aufhören, die Kinder sitzen in der Badewanne und rufen nach mir. Ich komme am Dienstag.
Gewicht nackt:
Philipp
19,5 Kilogramm
Sissi
32 Kilogramm
Ingrid
62
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