Es geht uns gut: Roman
sehr seltsam. Sie sagt sich, wenn der Bauch so bleibt wie jetzt, werde ich in den nächsten Tagen einen Arzt aufsuchen, damit er der Sache auf den Grund geht. Ist was los, um so besser, je eher ich es weiß. Ist es nichts, dann mache ich mir nicht länger einen Kopf. Und bis dahin, das schwört sie sich, sagt sie zu niemandem ein Wort, auch nicht zu Peter, der würde sich über eine Schwangerschaft am Ende noch freuen, das hat er nicht nur einmal gesagt und es in seinem letzten Brief auch geschrieben mit der eindringlichen Aufforderung, sie solle sich Röteln impfen lassen. Dieser Depp, er ist halt ein Riesendepp. Er muß doch einsehen, daß auch sie sich besser auf eigene Beine stellt, damit sie in der Ehe geistig nicht unterernährt zurückbleibt wie ihre Mutter. Und nochmals ein argwöhnisches Drücken mit den Fingern oberhalb der Leiste und dabei ein unangenehmes Gefühl, das ihr nichts mitteilt, nichts jedenfalls, auf das sie etwas geben würde.
Manchmal als Kind hatte sie einen runden Bauch, prall wie eine Trommel. Otto machte sich einen Spaß daraus, nach dem Essen die Bespannung zu prüfen. Sie legten sich auf das Sofa im Wohnzimmer oder in den Garten, der Himmel über ihnen und die Glücksempfindung, weil dort keine Feindbomber rumorten. Otto trommelte auf ihrem Bauchfell. Sie erinnert sich, daß Otto (einmal) sagte (da war er noch beim Jungvolk und brachte von den Heimabenden diesen abenteuerlichen Dialekt mit nach Hause, zum Mißfallen der Eltern: plötzlich hat Ingrid Ottos stimmbrüchige Stimme im Ohr), da verkündete er, trommelnd, und der Satz ist ihr geblieben:
– Ich werde mich als Freiwilliger zum Reichskolonialbund melden, Kisuaheli lernen und zehn Negerfrauen heiraten.
Das war lustig, sie haben viel gelacht.
Trotzdem kann Ingrid sich nicht daran erinnern, daß sie Otto besonders nachgeweint hätte. Sie waren alle niedergeschlagen, auch die Nachbarn, keiner wußte, wieviel Anteil an der Niedergeschlagenheit von welchem Anlaß herrührte. Anlässe gab es immer mehr als nur einen. Und dann scharenweise Rotarmisten im Garten, sie kletterten auf die Bäume, um in den Vogelhäusern nach deutschem Eigentum zu suchen. Die Vogelhäuser, die nicht erreichbar waren, schossen die Soldaten herunter. Ingrid weiß noch, es muß wenige Tage nach Ottos Tod gewesen sein, Mitte April, da blickte von einem der Apfelbäume, die kurz vor dem Blühen standen, einer der gefürchteten Mongolen in ihre Kammer, eines der stärksten Bilder aus jenen Tagen. Ingrid stand am Fenster, ihr Blick traf für einen kurzen Moment die fremd über breiten Backenknochen liegenden Augen des jungen Soldaten. Dann wandte sich der Mann ab. Er stemmte sich ein Stück höher, rüttelte an dem Vogelhäuschen, und eine Amsel flog heraus.
Ihr Mitleid mit der Amsel ist Ingrid stärker in Erinnerung als ihre Trauer um Otto. Vielleicht, weil Otto auch davor oft weg war, auf Lagern und mit den Kanuten. Vielleicht, weil in besagtem Frühjahr die Ereignisse einander überstürzten und überlagerten und weil die Trauer um Otto ständig präsent war und der Schmerz in der Rückschau von anderen Begebenheiten nicht zu trennen ist. Rotarmisten zogen in geschlossener Formation durch die Straße, schwermütige Lieder singend, dahinter Panjewagen, über und über mit Teppichen und Polstern ausgelegt, darauf östliche Frauen in Armeeblusen. Eine größere Gruppe Soldaten campierte für mehrere Wochen in den unteren Räumen. Dann wurden britische Offiziere einquartiert, da gab es erst recht keinen Platz zum Weinen. Die Ernährungsengpässe, das Baden in den Löschwasserteichen, die Schuttaktion, das Eingesprühtwerden mit DDT. Hin und wieder rannte Ingrid zur Ankunft von Kriegsgefangenentransporten, um zu sehen, ob ein Familienmitglied dabei war. Lebt der noch? Lebt der noch? Die Weihnachtsrede von Figl, daß er keine Kerzen geben könne und kein Glas zum Einschneiden, nur den Glauben an dieses Land. Zwei Grippewellen. Ein karger Fasching. Und ehe man sich versah, war Otto ein Jahr tot. Ingrid wechselte aufs Gymnasium. Die Leute vom Film gingen bei den Nachbarn aus und ein. Ihr Vater wurde ins Ministerium berufen, später wurde er Minister. Die Besatzungssoldaten zogen sich in die Kasernen zurück. Der erste Urlaub im Ausland. Das erste Ballkleid und neue Freundinnen. Der Besuch im Tiergarten, wo sie sich von einem Studenten fotografieren ließ. Der hieß Peter. Der verdiente sich mit einer Kamera, die er vom Schwarzmarkt hatte, ein Zubrot vorm
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