Es geht uns gut: Roman
ein Keim jener Hoffnung steckt, ein Nachholen von Dingen, die man irgendwann versäumt hat, könnte möglich sein.
Ob auch Zeit vergessen kann zu vergehen, liegengebliebene Zeit, die man berühren muß, um sie zum Verstreichen zu bringen? Hundert Jahre, die in einem kurzen Moment vergehen, ganz schmerzlos?
Für einen Augenblick, während er diesen Gedanken hat, kann er sich sogar vorstellen, daß er die geänderte Situation genießen wird. Es muß ihm nur gelingen, gelassener zu werden, all das wegzudrängen, was ihm am Herzen hängt. Und weil er ein methodischer Mensch ist, nimmt er dieses Projekt sogleich in Angriff, und zwar anhand dessen, worum es in seinem Leben, wie er meint, momentan vor allem geht: der Zeit.
Mit auf- und zuklappenden Beinen erzeugt er Wellen, schaut diesen Wellen bei ihren Bewegungen zu und fragt sich dabei, ob die Zeit tatsächlich arbeitet. Na ja, denkt Richard, arbeiten wird sie auf jeden Fall, aber vermutlich nicht für ihn oder für andere, sondern nur für sich selbst. Ob man einen Wettlauf mit der Zeit gewinnen kann. Vielleicht wie im Märchen vom Hasen und dem Igel, indem man sich reproduziert, siehe Ingrid, die ihn zum Großvater gemacht hat. Ob man Zeit an der Hand haben kann – vergleichbar mit einem Sohn, der den Vater an der Hand nimmt und zu einem toten Tier führt.
Ob die Zeit je an Bedeutung verliert?
Er weiß, seine Person verliert an Bedeutung, und nicht nur an Bedeutung, auch an Elan und Willenskraft, an Attraktivität, an geistiger Aufnahmefähigkeit. Die Liste ließe sich noch eine Weile fortsetzen. Doch das gute Gefühl, sich noch eine Weile behaupten zu können, ist so oder so dahin, da will er auf weiteres Nachdenken gerne verzichten.
Die Wellen laufen immer wieder in der Mitte der Wanne aufeinander zu, Bauch und Wannenrand, hin und zurück, Havarie. Richard gleitet mit dem Oberkörper tiefer ins Wasser, die Knie seiner abgewinkelten Beine stoßen jetzt als Inseln hervor, sein Kopf taucht unter, mit geschlossenen Augen, die Nasenflügel zwischen zwei Fingern. In etwa so wird die Zukunft aussehen. Das wohlig warme Wasser, das ihn umgibt, das schmierige Wasser vom September 1962, das ist der Alltag ist der Ruhestand ist die Einsamkeit ist die Trauer ist der Raum die Distanz ist der Untergang. Prustend kommt er wieder hoch. Er seift sich den Kopf ein, läßt heißes Wasser darüberlaufen. Er wäscht sich die Achselhöhlen, kratzt sich, liegt wieder reglos. Sein Bauch wölbt sich armselig, wabbelige Lappen mit mehreren tiefen Falten dazwischen und ohne einen Hauch von Bräune, obwohl der Sommer gerade erst vorbei ist. Keine Muskeln, alles Fett, aufgequollen, das Fett der sieben fetten Jahre. Dunkle und graue Haare darauf, rings um einen käsigen Nabel, als gehe von dort ein magischer Sog aus. Die Haare wehen schlaff in der leichten Strömung, die seine Atmung und sein Puls verursachen, kann sein, es sind seine Hände, die ein wenig zittern. Vielleicht. Ansonsten rührt er sich einige Minuten lang nicht. Schließt die Augen. Ja. Ja. Und in der Erinnerung taucht eine Zeit auf, da fingen Alma und er an gemeinsam zu baden. Fingen es an und hörten es wieder auf.
Wann das war? Er weiß es nicht mehr genau. Nicht am Anfang, eher in den vierziger Jahren, als Alma nicht mehr mit den Kindern badete und die Kinder viel außer Haus waren. Otto mit der Hitlerjugend und den Kanuten, Ingrid im Rahmen der Kinderlandverschickung. Otto ist schon länger tot, als er gelebt hat. Und Ingrid? Die macht es ihm wahrlich nicht leicht, so eine Unverträglichkeit, das hat er noch nicht erlebt. Grundsätzlich sind die andern schuld. Da fällt ihm ein –. Das war nicht immer so. Wann wird es gewesen sein? Frühsommer 1943. Oder 1944? Mondsee. Schwarzindien , das weiß er noch. Schwarzindien hieß das Wirtshaus, in dem Ingrids Klasse untergebracht war. Vage hat er noch den Ton von Ingrids kindlichem Stolz im Ohr. Mädel vom Dienst im sommerlichen Schwarzindien, Fahnendienst im stürmischen Schwarzindien. Küchendienst, Tagraumdienst, Stubendienst, Waschraumdienst, Schuhdienst, Verdunkelungsdienst. Er hat die Einteilungsliste gesehen, als er Ingrid besuchte, im Zuge von Ingrids Degradierung zum langfristigen Klosettdienst. Dieses dürre Mädchen mit den Pinocchio-Beinen, dem man gar nicht genug Eisen verabreichen konnte, damit es ein bißchen Farbe bekam. Bei der Essensausgabe hatte sie beanstandet, daß die Lehrerin ein Stück mehr auf dem Teller hat als sie. Der Aufruhr, den diese Bemerkung
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