Es geschah in Berlin 1910 Kappe und die verkohlte Leiche (German Edition)
zum Kohlenplatz bahnen. Übelste Schimpfworte wurden ihnen zugerufen, denn die Leute glaubten, dass einer der Streikposten ermordet worden war.
Leiter der Mordkommission Kohlenplatz war der Kriminalinspektor Waldemar von Canow, 49 Jahre alt. Für einen Adligen hatte er es bei der Polizei nicht eben weit gebracht, aber zum einen stammte er aus dem untersten Adel, und zum anderen verfügte er über keine andere außergewöhnliche Begabung als die, sehr gut Billard zu spielen. Menschen, die ihn nicht leiden konnten, nannten ihn einen «degenerierten Adligen» oder sprachen davon, dass er einmal einen leichten Tod haben werde: «Na, viel Geist hat er nicht aufzugeben.» Die meisten aber schätzten ihn als geselligen Menschen und taten sich gern mit ihm zusammen, um Karten und Billard mit ihm zu spielen oder mit ihm und seiner Familie Landpartien zu unternehmen. Er war mit einer Bürgerlichen verheiratet, mit der Tochter eines Postrats. Charlotte hatte ihm vier reizende Kinder geschenkt, zwei Knaben und zwei Mädchen. Canow genoss das Leben, und wenn er denn finanziell dazu in der Lage gewesen wäre, hätte er liebend gern auf seinen Dienst verzichtet, aber von seinem Vater, einem Gutsverwalter aus Mecklenburg, hatte er nichts als Schulden geerbt und von seiner Mutter nur ein paar vergleichsweise wertlose Schmuckstücke. Man wohnte mehr oder minder standesgemäß in einem der neuen Mietshäuser am Kaiserplatz.
Kappe verfügte über die Gabe, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, auch wenn sie viel älter waren als er und höheren Ständen angehörten, und so brauchte er von Canow nur anzusehen, um zu wissen, dass der diesen Einsatz verfluchte. Es hatte ein schöner Abend mit Austern und Champagner werden sollen, dann endlose Partien Bridge und Whist. Nun musste er durch den Schlamm aus Kohlengrus und Löschwasser waten.
Die Feuerwehrleute hatten ihre Arbeit getan und waren dabei, wieder abzurücken. Nur eine kleine Brandwache sollte noch zurückbleiben, falls das Feuer in einem der Brandnester doch wieder aufflackern würde. Bei Kohlen wusste man das nie so genau.
Dr. Kniehase kam herbei, um Galgenberg und Kappe zu informieren. «Die verkohlte Leiche liegt dort in der Baracke. Kommen Sie mit, ich zeig Ihnen, wo.»
Die Feuerwehrleute hatten elektrische Lampen aufgestellt, und das Licht war gar nicht so schlecht, doch Kappe hatte trotzdem Mühe, etwas zu erkennen, denn der verbrannte Körper hob sich nicht im Geringsten von den schwarzen Balken ab, die wild durcheinander lagen. Außerdem war er mächtig geschrumpft und furchtbar gekrümmt. Nur die Arme waren vorgestreckt, als hätte der Tote noch boxen wollen. Kappe hatte das Bild einer Ameise vor sich, wie sie die als Kinder mit Hilfe einer Lupe und des Sonnenlichtes verbrannt hatten.
«Bei verkohlten Leichen erbringt die Leichenschau keine sicheren Hinweise zur Todesursache», erklärte ihnen Dr. Kniehase, nachdem sie sich durch die Trümmer vorgearbeitet hatten.
«Auf alle Fälle handelt es sich um einen Mann. Frage: Ist er eines natürlichen Todes gestorben oder eines unnatürlichen und erst dann verbrannt worden? Ist er durch Rauchgasvergiftung gestorben? Schauen wir mal. Schon bei der äußeren Besichtigung kann man Hinweise auf vitales Verbrennen finden, zum Beispiel die Wimpernzeichen. Wenn Augenbrauen und vordere Kopfhaare vollständig versengt, von den Wimpern aber nur die Spitzen gekräuselt sind, können wir darauf schließen, dass die Augen zugekniffen worden sind. Hier sehe ich aber keine Wimpernzeichen.
Auch keine Krähenfüße - das heißt, dass die ehemaligen Täler der Hautfalten an den seitlichen Augenwinkeln heller sind als die verbrannte Haut ringsum.»
Dr.-Ing. Konrad Kniehase hatte als Ingenieur im kaiserlichen Heer gedient und dann lange Jahre an der Artillerie- und Ingenieurschule gelehrt, bevor man ihn gezwungen hatte, wegen einer Liebesaffäre mit der Frau eines Vorgesetzten den Militärdienst zu quittieren. Nach einigem Hin und Her war er zur Kriminalpolizei gestoßen, wo man langsam aber sicher daranging, sich bei der Aufklärung von Verbrechen auch naturwissenschaftlicher Methoden zu bedienen. Er war ein Tüftler, der mit seinen kriminaltechnischen Untersuchungsergebnissen seinen Kollegen immer wieder weiterhelfen konnte. In letzter Zeit hatte er versucht, sich auch Kenntnisse auf dem Gebiet der forensischen Medizin anzueignen, und die wollte er jetzt auf dem Kohlenplatz unter Beweis stellen.
«Die Fechter- oder Boxerstellung der
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