Es geschah in Berlin 1910 Kappe und die verkohlte Leiche (German Edition)
Laufe des Abends war es bis zu ihrer Plätterei in der Thurmstraße vorgedrungen, dass es auf dem Kohlenplatz in der Wiclefstraße gebrannt und einen Toten gegeben haben sollte, und von dunklen Vorahnungen erfüllt, war sie losgelaufen. Sie wusste, dass ihr Paul noch lange hatte arbeiten wollen, um ein paar Groschen mehr in der Lohntüte zu haben. Für das Küchenspind, wenn sie heiraten und eine eigene Wohnung haben würden. Sie hatte ihn darum gebeten.
Als sie die ganze Wahrheit erfuhr, brach sie zusammen und musste ins Moabiter Krankenhaus geschafft werden.
SECHS
Sonntag, 25. September 1910
GUSTAV DLUGY liebte, seit er wieder in Deutschland war, den Frühschoppen am Sonntagmorgen. Saß er zu dieser Zeit allein in seiner nicht eben fürstlichen Behausung, wurde er rammdösig. Darum hatte er sich heute um 8.30 Uhr mit seinem Freund Albert Priebisch am Bahnhof Beusselstraße verabredet. Der Freund kam mit dem Zug aus Rixdorf, musste also um die halbe Stadt herumfahren, wobei es von der Fahrzeit her kaum eine Rolle spielte, ob er den Weg über den Süd- oder den Nordring wählte.
Dlugy hatte sich schon eine Viertelstunde vor Ankunft des Freundes am Bahnhof eingefunden, denn er stand immer wieder gern an den Gleisen und beobachtete das rege Treiben auf dem Güterbahnhof, der sich bis zur Putlitzstraße hin erstreckte. Im Grunde seines Herzens war er noch immer Reichsbahner und der Platz auf der Lokomotive seine geheime Sehnsucht. Wenn ihn damals nicht der Jähzorn übermannt hätte. .. «Mit einem Schlag hat sich damals mein Leben verändert», war eine seiner stehenden Wendungen. Was hätte aus ihm nicht alles werden können, wenn er damals nicht zugeschlagen und seinen Lokführer erheblich verletzt hätte. Aber vielleicht wurde nun gerade deswegen viel aus ihm - als Gewerkschaftsführer, als Politiker. Er war ein begnadeter Redner, und er fühlte, dass er die Leute in der Hand hatte, wenn er zu ihnen sprach. Die andere Seite, Kupfer & Co. und deren Anwälte, hatte ihn gerade als Demagogen beschimpft - er nahm das hin wie einen Orden.
In der rechten Seitentasche seines schwarzen Anzugs hatte Dlugy eine Browning-Pistole stecken, und er fürchtete nun ständig, sie würde, schwer wie sie war, das Futter durchstoßen und innen zum Rücken rutschen. Auch beulte sie den Stoff nach außen mehr als unschön aus. Aber trug er sie in der Hosentasche, konnte er nicht richtig laufen, und verbarg er sie in der Brusttasche, sah das mehr als komisch aus. Im Hosenbund hielt sie nicht.
Jetzt kam der Zug aus Richtung Jungfernheide angedampft, und Dlugy erfreute sich an seinem Anblick. Ebenso freute er sich auf Albert Priebisch. Sie hatten sich auf einer Gewerkschaftsversammlung kennengelernt und waren zudem Genossen in der SPD. Die politische Arbeit war ihnen Herzensangelegenheit. Albert Priebisch war Zimmermann und als solcher viel in der Welt herumgekommen. Das verband ihn mit Dlugy, ebenso wie der Drang, frei zu sein und keines anderen Mannes Knecht oder Sklave. Wenn sie schon ihre Arbeitskraft verkauften, weil sie es mussten, wenn sie nicht ins Lumpenproletariat abrutschen oder verhungern wollten, dann hegten sie den Unternehmern gegenüber einen tiefen Groll und dachten bei jedem Befehl, den sie auszuführen hatten: «Warte nur ab, bis die Revolution kommt und sich die Verhältnisse umkehren werden.» Schluss damit, dass die einen die anderen ausbeuteten! «Der Mehrwert unserer Arbeit gehört uns!»
Als Priebisch aus dem Bahnhofsgebäude kam, umarmten sie sich. Dlugy äußerte seine Hoffnung, dass es ein schöner und ereignisreicher Tag werden würde.
Priebisch lachte. «In Moabit immer - bei der Tradition, die ihr hier habt.» Das war eine Anspielung auf die berühmten Männer, die hier gewohnt und gewirkt hatten. An der Spitze Karl Marx, der im März und April 1861 bei Ferdinand Lassalle in der Bellevuestraße 13 untergekommen war. 1888 war Wilhelm Liebknecht im sechsten Wahlkreis (Moabit und Wedding) mit großer Mehrheit in den Reichstag gewählt worden. 1885 hatte Gerhart Hauptmann in der Lüneburger Straße gewohnt und seine ersten Dramen geschrieben, und im Jahre 1900 hatte Lovis Corinth ein Atelier in der Klopstockstraße bezogen. 1906 schließlich hatte der Schuster Wilhelm Vogt am Bahnhof Putlitzstraße mit der Rekrutierung eines Trupps Soldaten seine Karriere als Hauptmann von Köpenick begonnen.
«Und mit dem Streik der Kohlenarbeiter schreiben wir ein weiteres Stück Geschichte», sagte Dlugy und führte
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