Es geschah in Berlin 1910 Kappe und die verkohlte Leiche (German Edition)
trieb sie auseinander. Das gab sofort wieder böses Blut. Zunächst aber nutzte man nur das Wort als Waffe.
«Wir lassen uns doch nicht von euch den Mund verbieten!»
«Haut endlich ab!»
«Kriecht doch dem Stinnes in den Arsch, ihr Blödiane!»
Die Mittagssonne funkelte in Tausenden und Abertausenden von Glasscherben, die die Gehsteige und Fahrbahnen bedeckten und die wegzufegen die Stadtreinigung noch keine Zeit gefunden hatte. Die Mittagssonne spiegelte sich auch in den Pickelhauben der Schutzleute. Deren rechte Hände fuhren wie auf Befehl zu den umgeschnallten Browning-Pistolen, als ein Kohlenwagen der Firma Kupfer & Co. immer näher kam. Er fuhr in schlankem Trab. Zwei Schutzleute ritten voraus. Ein Radfahrer, der den Wagen überholen wollte, wurde von einem Schutzmann zu Fuß beiseite gedrängt. Zwei weitere Berittene schlossen den Zug. Die beiden Fuhrleute auf dem Bock vorn hatten die Augen starr geradeaus gerichtet und kniffen die Lippen zusammen.
«Ihr Schweine, ihr Arschkriecher!», scholl es ihnen entgegen.
«Mit euch werden wir auch noch abrechnen!»
«Denkt an Paule Tilkowski!»
«Auf den Friedhof mit allen Streikbrechern!»
Aus der Huttenstraße kam eine Horde halbwüchsiger Burschen gestürmt und drängte wie beim Rugby gegen die Polizeikette. Ehe sie diese aber aufsprengen konnte, trabte aus dem Hintergrund ein Dutzend Berittener heran. Die Angreifer wichen zurück und sprangen wie Hasen übers Feld. In höchster Not kaperten sie einen der weißen Bollewagen, der gerade an der Ecke Rostocker Straße haltgemacht hatte, stießen den Kutscher, den Jungen und das Milchmädchen herunter und fegten davon, als wäre ihr plumpes Gefährt ein römischer Kampfwagen und sie wären Ben Hur. Als sie zu schnell um die Ecke fahren wollten, kippten sie um.
Frieda Grienerick saß in einer riesigen Pfütze aus bester Vollmilch, denn eine herabgefallene Kanne war ausgelaufen. Als sie sich schimpfend erhob, hatte sie auch noch den Spott der Menge zu ertragen. Es tropfte von ihrem Kleid aufs Pflaster.
«Kiek ma, die pinkelt Milch!», schrie einer.
Sie stürzte davon, um in einer der umliegenden Destillen Schutz zu finden.
Hermann Kappe hatte die Nacht im Krankenhaus Moabit verbracht. Nun wartete er auf die Morgenvisite und hoffte, dass die Ärzte ihn wieder entlassen würden, denn er fieberte darauf, seine Jagd nach Flüster-Fritze und Priebisch oder Priebusch fortsetzen zu können. Dass Flüster-Fritze mit richtigem Namen Friedrich Schwina hieß, hatte er schon herausbekommen, denn mit ihm im Krankensaal lagen etliche Kollegen, und man hatte sich viel zu erzählen gehabt. Am schlimmsten hatte es den Schutzmann Köpp vom Revier 10, Charlottenburg, erwischt. Er hatte mehrere Messerstiche in den Unterleib erhalten und war schon operiert worden, sein Zustand wurde als bedenklich eingestuft. Ein anderer Kriminalwachtmeister, Thurow vom 29. Revier, hatte den Bruch des linken Mittelhandknochens davongetragen. Bei Kappe waren eine leichte Gehirnerschütterung sowie eine größere Fleischwunde und starke Prellungen auf dem linken Oberarm diagnostiziert worden. Der Blumentopf, der nach ihm geworfen worden war, hatte seinen Kopf zum Glück nur gestreift und war dann auf der Schulter aufgeschlagen. Gebrochen war nichts. Zwar trug er um den Kopf einen mächtigen Turban aus weißem Verbandmaterial, und der linke Arm war mit einer Mullbinde am Körper festgebunden, er hoffte aber dennoch, im Laufe des Tages entlassen zu werden. Vielleicht konnte der Turban durch ein Pflaster ersetzt werden, das man mit dem Hut verdecken konnte.
Endlich kamen die Ärzte hereingerauscht. Als sie an seinem Bett angelangt waren, wurde kräftig gescherzt.
«Das verstehe ich nicht, Kappe, Sie sind doch Fußballer.»
«Ja, Herr Doktor, aber. ..»
«Mensch, da fängt man doch so einen Blumentopp weg, wenn er angeflogen kommt.»
«Ich bitte um Vergebung, aber ich bin Mittelstürmer und kein Torwart.»
Der Arzt nickte. «Ah, jetzt kapiere ich erst: Sie wollten einen Kopfball ins Tor expedieren und haben leider zu spät bemerkt, dass es sich um einen Blumentopf gehandelt hat.»
Alles bog sich vor Lachen, auch wenn es einigen gar nicht so erschien, als würde dieses Lachen wirklich gesund sein, denn ihre Wunden schmerzten dabei noch mehr. Kappe dröhnte der Kopf.
«Und wie fühlen Sie sich?»
«Ganz wunderbar», antwortete er, nach der Devise: Ein Indianer kennt keinen Schmerz. «Und ich würde gern heute Vormittag wieder entlassen
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