Es geschah in Berlin 1910 Kappe und die verkohlte Leiche (German Edition)
einem Zahnarzt in Stellung war, heute ihren freien Tag hatte, wollte sie mit ihr Unter den Linden bummeln gehen. Getroffen hatten sie sich auf der Schlossbrücke, und laufen wollten sie bis hinunter zum Pariser Platz.
«Einmal den Kaiser sehen!» Das war Frieda Grienericks größter Traum. «Wenn er von der Ausfahrt zurückkommt.»
«Mir würde schon Prinz Joachim reichen», sagte Edith. Für ihn schwärmte sie ganz besonders. «Im Oktober wird er in Potsdam im Stadtschloss Wohnung nehmen und sich auf sein Offiziersexamen an der Potsdamer Kriegsschule vorbereiten.»
Am Zeughaus kauften sie sich ein warmes Würstchen und schauten, während sie es verzehrten, verträumt zum Schloss hinüber. Edith schwärmte davon, wie sie vor fünf Jahren dabei gewesen war, als die Berliner am Pariser Platz jubelnd die Herzogin Cecilie zu Mecklenburg-Schwerin begrüßt hatten, die Braut des Kronprinzen. «So etwas müsste es jede Woche geben.»
Vor der Universität stand ein Obstkarren. «Messina-Apfelsinnen - fünf Pfennig das Stück!», rief der Verkäufer. Auch da konnten sie nicht widerstehen, obwohl sie beim Verspeisen höllisch aufpassen mussten, dass ihnen der Saft nicht auf die Bluse tropfte.
Vieles war nun zu bestaunen, so die Habelsche Weinhandlung, das Grand Hotel de Rome, das Geschäfts- und Wohnhaus der Hellerschen Lampenfabrik mit seinen eisernen Blumenranken an der Fassade, das Hotel Minerva mit seinem Aquarium, die «Kaiserlich Russische Botschaft» mit dem berühmten Weißen Saal, das
«Ministerium für geistliche, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten», die Kriegsakademie, das Innenministerium und das Redernsche Palais.
Als sie zur «Kaiser-Galerie» kamen, mussten sie natürlich hinein- und bis zur Behrenstraße hindurchgehen, obwohl sie nicht das Geld hatten, auch nur eine Kleinigkeit zu kaufen. Gleich am Eingang warb das «Schwedische Reisebureau» um Kunden.
Fastest and most direct route to Sweden, Norway and Finland, las Frieda Grienerick, und da sie kein Englisch konnte, klang es nach Fasten und Apfelmost.
«Da werden wir wohl nie hinkommen», sagte Edith.
«Man soll nie ‹nie› sagen», erwiderte Frieda Grienerick und schien schon eine Idee zu haben.
«Wie denn?»
«Abwarten.»
Das Höchste, was sie sich an Luxus erlauben konnten, waren eine Tasse Kaffee und ein Stück Torte im Café Kranzler. Das Wetter war so schön, dass sie noch draußen sitzen konnten. Voller Sehnsucht nach einem Leben, wie es die höheren Stände führten, sahen sie den Kutschen und Equipagen hinterher.
«Einmal in einem solchen Wagen sitzen - und nicht immer nur auf meinem Milchwagen stehen!», seufzte Frieda Grienerick.
Edith lachte. «Ja, wenn man sich die falschen Eltern ausgesucht hat. ..»
Sie blickten auf die Kreuzung Unter den Linden und Friedrichstraße, das sogenannte «Drei-Café-Eck», denn neben Kranzler waren auch Bauer und das Victoria hier angesiedelt. Die Friedrichstraße mit ansonsten 22 Metern Breite war hier auf 12 Meter verengt und bildete einen erheblichen Engpass. Automobile und Fuhrwerke stauten sich wie sonst kaum noch in der Stadt, und die Fußgängerströme brachen sich an einer der Urania-Säulen, von denen ein Privatunternehmer dreißig Stück überall in Berlin platziert hatte. Sie waren 4,50 Meter hoch und aus Eisenguss hergestellt, enthielten im Kopf vier Zifferblätter einer beleuchteten Uhr, während in Schaft und Sockel meteorologische Instrumente untergebracht waren.
Upper - Ten - Seife, las Frieda Grienerick, wiederum so falsch wie eben schon. Sachgemäße Hautpflege - Vornehmes Parfum. Preis fünfzig Pfennig bis eine Mark.
Auch Edith prüfte ihre Sehkraft und entzifferte: Gebrüder Lewandowski, Corsets. Nächste Filiale Leipziger Straße 113, Ecke Mauerstraße. Ihre Aufmerksamkeit wurde nun von einem Schutzmann in Anspruch genommen, der auf den Fahrdamm trat, um den Verkehr zu regeln. «Nanu, ein Blauer - ich denke, die sind alle bei euch in Moabit?»
«Alle nicht.»
«Haste denn die verkohlte Leiche gesehen? Von dem da, den sie ermordet haben?»
«Nein.»
«War das nicht bei dir in der Wiclefstraße?»
Frieda Grienerick spießte das letzte Stück ihrer Torte mit der Gabel auf. «Die Wiclefstraße ist lang - und was geht mich die verkohlte Leiche an?»
Als Hermann Kappe am Bahnhof Beusselstraße stand und auf Gustav Galgenberg wartete, ahnte er, dass die Nacht vom 27. auf den 28. September 1910 in den Moabiter Straßen wiederum zahlreiche blutige Kämpfe zwischen einem
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