Es geschah in Berlin 1910 Kappe und die verkohlte Leiche (German Edition)
er doch wieder unschlüssig. Er hatte von Tilkowski gehört, dass Sophie Schünow eine kleines Zimmer hinter ihrer Plätterei bewohnte, aber dort zu klingeln und ihr mit einem Blumenstrauß in der Hand gegenüberzutreten, erschien ihm zu platt und pietätlos, zumal ihr Verlobter noch nicht einmal unter der Erde war. Nein, wenn er sie zu einer Fahrt in seinem Automobil einladen wollte, dann ging das nur, wenn er sie ganz zufällig traf. Also fuhr er zur Bismarckstraße hinauf, erreichte am Knie die Berliner Straße, blieb auf ihr bis zum Bahnhof Thiergarten und bog dann in die Klopstockstraße ein, um über den Hansaplatz und die Lessingstraße zur Thurmstraße zu kommen. Langsam fuhr er an ihrer Plätterei vorbei, doch seine Hoffnung, dass sie dort auch am Sonntagvormittag arbeiten würde, erfüllte sich nicht. Es war kurz vor elf Uhr, und vielleicht war sie noch gar nicht aufgestanden. Was blieb ihm, als zwischen Strom- und Beusselstraße auf und ab zu fahren? Zum Glück waren die Unruhen nach der Festnahme Dlugys abgeflaut, von daher hatte er nicht mehr zu befürchten, dass plötzlich der Janhagel angestürmt kam und schrie: «Hungerlöhne zahlen, aber mit einem großen Automobil durch die Gegend fahren!» Was ihm jetzt drohte, war höchstens ein Zusammenstoß mit einer Straßenbahn.
Fast zwanzig Minuten betrieb Kockanz das Spielchen, dann sah er Sophie Schünow auf die Straße treten. Sofort gab er Gas.
«So ein Zufall!», rief er, als er neben ihr hielt. «Ich komme gerade vom Friedhof, vom Grabe meiner lieben Mutter, und bin auf dem Weg nach Frohnau, da sehe ich Sie. .. Sie sind auf dem Weg zur Kirche?»
«Nein, ich wollte nur ein wenig frische Luft schnappen.»
«Dann kommen Sie doch mit nach Frohnau, da ist es herrlich jetzt. Viel Wald. Ich will mir da ein Baugrundstück ansehen, und Sie können mich beraten. ..» Er stieg aus und ging um den Wagen herum, um ihr die Tür auf der Beifahrerseite aufzuhalten.
Sie überlegte einen Augenblick. Gefährlich schien es ihr nicht zu sein, aber. .. Kockanz war ein geachteter Mann, das heißt, als Mann hatte sie ihn nie wahrgenommen, er war immer nur der Chef ihres Verlobten gewesen und gehörte einem ganz anderen Stand an als sie. War es schicklich, mit ihm allein in einem Automobil zu sitzen, und was würde Paul dazu sagen? Paul merkte nichts mehr. Aber sie hörte schon die Leute reden: Die Trauerzeit hat gerade begonnen, da wirft sie sich schon einem anderen Kerl an den Hals. Nun, um rein in die Ehe zu gehen, war es längst zu spät. Wie sagte ihre Mutter immer? Ist der gute Ruf erst ruiniert, lebt sich’s wirklich ungeniert.
«Na?», fragte Kockanz.
«Nun gut.» Sie stieg ein.
Er fuhr los. Über die Beusselbrücke hinweg, an Plötzensee vorbei Richtung Wedding. Zuerst schwiegen sie, dann fragte er sie, ob sie sich nun erleichtert fühlte, dass mit Dlugy der Mann, der ihren Paul erschossen hatte, hinter Gittern sei. Ihm selber ginge es so.
«Mir auch. Und sie werden ihn ja zum Tode verurteilen.»
«Möglich. Kannten Sie Dlugy?»
«Nein, höchstens mal vom Sehen in ’ner Kneipe, wenn ich meinen Paul abgeholt habe.»
«Ach ja. ..», seufzte Kockanz. Dann wechselte er das Thema.
«Es ist ein ganzes Stückchen raus aus Berlin, wo ich mich niederlassen will.»
Frohnau war vor drei Jahren gegründet worden, als Guido Graf Henckel Fürst von Donnersmarck dem Baron Werner von Veltheim dreitausend Morgen Wald der Stolper Heide abgekauft hatte, um mit Hilfe der Berliner Terrain-Centrale (BTC) eine Gartenstadt nach englischem Vorbild zu errichten. Als Name war in einem Wettbewerb Frohnau, «Frohe Aue», gefunden worden. 1909 hatte man mit der Anlage der ersten Straßen und Plätze begonnen, in diesem Jahr waren der Bahnhof und die umgebenden Gebäude fertiggestellt worden, und am 7. Mai hatte die feierliche Einweihung Frohnaus stattgefunden. Langsam kamen auch die ersten Siedler. Zwischen 95 und 150 Mark waren pro Quadratmeter zu zahlen. Man versprach allen, die sich hier niederließen, Steuerfreiheit.
«Das ist doch was», sagte Kockanz, als sie sich von Hermsdorf her der Gartenstadt näherten.
«Hier ist es ja wie im Paradies», murmelte Sophie Schünow.
«Aber nichts für unsereins.»
«Wer weiß. ..»
Kockanz hatte mit der Terraingesellschaft schon über ein Grundstück an der Veltheimpromenade verhandelt, ohne aber genau zu wissen, wo die gelegen war. So musste er erst am Bahnhof halten und fragen. Es sei die vergleichsweise breite Straße, die vom
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