Es gibt kein nächstes Mal
du, Mädchen«, sagte ihre Tante
gerade, »wenn du alt wirst, dann erwarten sie von dir, daß du ständig nur mit
alten Menschen zusammen bist. Ich sehe gern, was, sich um mich herum tut. Es
hat mir schon immer Spaß gemacht, das Geschehen zu beobachten. Trotzdem kann
ich mich nicht beklagen. Nicht an einem so schönen Tag wie heute. Und nicht,
wenn du da bist. Iß noch ein Sandwich.« Sie kramte in ihrer Plastiktüte und zog
ein weiteres Päckchen heraus, das in Zellophan eingewickelt war.
»Sie richten es immer hübsch her.« Shirley wies
mit einer Kopfbewegung in die Richtung des Blumenbeets. »Daran hat sich nichts
geändert. Sie sorgen dafür, daß es nett aussieht.«
Plötzlich trat ein Bild vor Shirleys Augen:
Stella, wie sie sich drüben bei den Schaukeln herumtrieb. Und mit den Jungen,
die aus dem Krieg heimkamen, flirtete und rauchte. In Wirklichkeit war sie noch
ein Kind, doch sie war nicht lange ein Kind gewesen. Was Stella anging, so waren
die Blumen im Park dafür da, gepflückt zu werden. In einem Jahr hatte sie ihrer
Mutter zum Muttertag einen Strauß Blumen aus dem Park überreicht und dafür eine
ordentliche Tracht Prügel bekommen. Anschließend schien sie sich an dem Park zu
rächen, und als ihr Dad, während er einen Bericht in der Gazette las,
aufblickte und fragte, wer so dumm sein könnte, das alljährlich angepflanzte
Blumenbild zu zertrampeln (sie konnte sich noch erinnern, daß es in jenem Jahr
eine Uhr gewesen war, deren Zeiger in Form von gelben Primeln zehn vor zwei
anzeigten), hatte sich Shirley auf die Zunge beißen müssen, damit sie nicht rot
wurde und die Missetäterin verriet.
»Das sagt doch alles über dieses gottverdammte
Dreckloch, Shirl«, hatte Stella gesagt und auf die Uhr gedeutet, ehe sie einem
mysteriösen Vandalismus zum Opfer gefallen war, »sogar die verfluchte Zeit
steht hier still.«
Shirley zwang sich dazu, in die Gegenwart
zurückzukehren. »Deine Mutter und ich«, sagte sie und biß in das letzte
Brötchen, »waren immer so verschieden wie Tag und Nacht. Aber deshalb haben wir
einander nicht weniger geliebt...«, fügte sie mit fester Stimme hinzu.
»Habt ihr einander nahegestanden, als ihr jung
wart?« fragte Gemma, die schockiert darüber war, daß ihre Tante plötzlich auf
Estella zu sprechen kam.
»Nahe? Oh, ja, wir haben einander immer
nahegestanden. Nachdem sie von zu Hause fortgegangen ist, habe ich sie zwar
nicht mehr allzuoft gesehen, aber wir haben einander Briefe geschrieben, und
wir haben geredet, ich meine, nachdem sie geheiratet hat und Telefon hatte...«
Ihre Tante unterbrach sich, da ihr der Ausdruck des Erstaunens auf Gemmas
Gesicht nicht entging. »Hast du das etwa nicht gewußt?« fügte sie hinzu.
»Äh, nein, nicht wirklich«, stammelte Gemma.
Sie hatte immer angenommen, daß der Anruf, den
sie mitgehört hatte, Estellas einziger Anruf bei ihrer Schwester gewesen war
und daß sie sie selbst damals nur angerufen hatte, weil sie in einer
verzweifelten Lage war. Jetzt wurde ihr klar, wie albern das war. Wie sonst
hätten die beiden ihren alljährlichen Aufenthalt bei ihrer Tante arrangieren
sollen? Aber daß sie einander nahegestanden hatten? Sie konnte sich nicht
vorstellen, daß Estella sich Shirley nahe gefühlt hatte. Es fing schon damit
an, daß ihre Schwester sie immer »Stellw« nannte, obwohl sie darauf beharrte,
»Estella« genannt zu werden, sogar von ihren Kindern. Das mußte sie
fuchsteufelswild gemacht haben. Das »E« hatte sie ihrem Namen vorangestellt,
sowie sie von zu Hause fortgegangen war. Vielleicht war Shirley doch älter geworden,
als man hätte meinen sollen, und die Dinge gerieten in ihrer Erinnerung
durcheinander.
»Die arme alte Stell... Ich wünschte, ich hätte
etwas für sie tun können...«, fuhr Shirley fort. »Sie fehlt mir wirklich
sehr...« Sie hatte den Blick starr in eine mittlere Entfernung gerichtet, und
dann nahm sie Gemmas Hand und drückte sie fest.
Gemma erwiderte den Druck und fühlte sich wie
eine Schwindlerin, als sie Shirleys Hand losließ, denn sie war sich nie bewußt,
Estella zu vermissen. Oft, sagte sie sich, nahm sie ihre Abwesenheit bewußt
wahr, weil es wesentlich leichter war, größere Entscheidungen zu treffen, ohne
sich gegen Estellas Auffassungen zu behaupten, doch wenn sie sich je bemühte,
liebevoll an ihre Mutter zurückzudenken, dann mußte sie immer wieder
feststellen, daß sie sich fast augenblicklich vor Wut verkrampfte.
»Glaubst du, daß deine Knie einen
Weitere Kostenlose Bücher