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Es gibt kein nächstes Mal

Es gibt kein nächstes Mal

Titel: Es gibt kein nächstes Mal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Imogen Parker
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wollte, die Hitze, den Lärm und den
ekelhaften Gestank von billigem gebratenem Fleisch nicht an sich ranzulassen.
    Sie bemühte sich, dahinterzukommen, warum sie
eine leichte Besorgnis in sich aufkommen spürte, obwohl sie nur glückliche
Erinnerungen an Besuche bei ihrer Tante hatte. Am Vorabend hatte sie kurz
davorgestanden, ihren Besuch abzusagen, und sie hatte Shirley auch tatsächlich
angerufen, doch als sie die Aufregung aus der Stimme ihrer Tante hörte, tat sie
so, als wollte sie ihr Eintreffen nur noch einmal bestätigen. Sie konnte sich
nicht dazu durchringen, Shirley derart zu enttäuschen.
    Sie fragte sich, ob sie vielleicht deshalb
nervös war, weil sie Shirley nie ohne Ken gesehen hatte. Möglicherweise wäre es
Shirley lieb gewesen, wenn sie zu Kens Beerdigung nach Hause geflogen wäre,
aber auf den Gedanken war sie damals nicht gekommen. Shirley gehörte jedoch
nicht zu den Menschen, die einem etwas nachtrugen.
    Vielleicht hatte sie auch einfach nur Angst
davor, zu sehen, daß ihre Tante alt geworden war. Gemma hatte nicht viel
Erfahrung im Umgang mit alten Menschen, und obgleich Shirleys Briefe immer
heiter und optimistisch waren, wurde die Handschrift doch stets zittriger, und
außerdem schien sie in einer Art Altenwohnheim zu leben.
    Gemma setzte sich aufrecht hin. Sie wünschte,
sie hätte noch die Zeit gehabt, eine Illustrierte zu kaufen. Sie brauchte
etwas, worauf sie sich konzentrieren konnte. Gedanken, Erinnerungen und vage
Befürchtungen gingen ihr durch den Kopf. Sie sah sich unter ihren Mitreisenden
um und hatte das Gefühl, nicht hierher zu gehören.
    Vielleicht, sagte sie sich zum tausendsten Mal,
war es ein Fehler gewesen, wieder nach Hause zu kommen. Sie lebte sich in
England nicht so selbstverständlich ein, wie sie es gehofft hatte. Es war, als
sei sie in einem Übergangsstadium begriffen, als stünde sie in den Kulissen und
wartete auf ihren Einsatz, um etwas zu unternehmen. Aber was? Und wie wollte
sie überhaupt sein? Anders? Dieselbe? Sie selbst, was auch immer das heißen
mochte.
    Ironischerweise fühlte sie sich ausgerechnet in
Daisys Gegenwart am wohlsten. Bei dem Mittagessen in Camden hatte sie sich
zwischendurch einen Moment lang vollständig entspannt und ausnahmsweise
aufgehört, sich zu überlegen, wie sie sich verhalten sollte. Es hatte sich
spontan ergeben, daß sie für ein paar Minuten beide aufgehört hatten zu reden,
und nur das Klirren von Metall auf Porzellan hatte das Gefühl des Friedens
zwischen ihnen gestört, während sie Creme brulee in sich
hineinschaufelten und die dichten Menschenmassen beobachteten, die sich draußen
herumtrieben.
     
    Daisy, aber es war wohl überflüssig, das auch
nur zu erwähnen, hatte ihr natürlich nichts über Shirley berichten können.
Daisy stand ihrer Tante nicht nahe und hatte ihr auch nie nahegestanden.
Tatsächlich, sagte sich Gemma sarkastisch, gab es nur einen einzigen Grund
dafür, daß sie Shirley damals näher kennengelernt hatte, nämlich den, daß ihre
Mutter Daisy eine Woche im Jahr ganz für sich allein hatte haben wollen.
    Die alljährlichen Besuche bei ihrer Tante, die
gewöhnlich zu Sommeranfang stattfanden, begannen, als Gemma zehn Jahre alt war.
Bis dahin war ihr nur verschwommen klargewesen, daß ihre Mutter eine Schwester hatte,
die immer eine Weihnachtskarte schickte, gewöhnlich eine plumpe viktorianische
Szene, mit einem Pferd und einer Kutsche im Schnee. Jedes Jahr traf dieselbe
Nachricht ein: »Alles Gute Dir und den Deinen von Shirley und Ken.«
    Sie konnte sich noch an das Gesicht ihrer Mutter
erinnern, wenn sie den billigen Briefumschlag aufriß, naserümpfend die
Abbildung betrachtete und die Karte ganz hinten auf das Kaminsims verbannte,
ihr einen Platz hinter den Reihen von geschmackvolleren Karten zuwies. Sie fand
jedoch nie heraus, ob Estella ihrerseits eine der leuchtendbunten abstrakten
Karten, die sie selbst entwarf, an ihre Schwester schickte. Früher hatte sie
sich oft gesagt, falls ihre Mutter das tat, dann würde sich ihre Karte auf dem
Kaminsims ihrer Tante, einer Marmorimitation aus den Fünfzigern, ebenso
deplaziert ausnehmen wie deren Karte auf der eleganten georgianischen
Kamineinfassung bei ihnen zu Hause.
    Mit zehn Jahren hatte Gemma dann die Windpocken
bekommen, was absolut bedeutungslos gewesen wäre, wenn ihre Krankheit nicht
rein zufällig zeitlich mit der einzigen Abwesenheit ihres Vaters von zu Hause,
an die sie sich erinnern konnte, zusammengetroffen wäre. Seine Arbeiten

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