Es gibt kein nächstes Mal
es
AIDS?« fragte sie in einem vertraulichen Flüsterton, der nicht ganz so leise ausfiel,
wie sie es sich vorstellte. Zwei ältere Damen am Nebentisch sahen einander an
und rutschten auf ihren Sitzen herum.
Gemma lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und
nickte.
»Das dachte ich mir gleich«, sagte Shirley
verständnisvoll. »Ich habe es zwischen den Zeilen gelesen. Manche von ihnen
sind ganz reizende Menschen, habe ich mir sagen lassen. Sehr sensibel. Was für
ein Jammer. Dann sind wir jetzt also beide verwitwet.«
Der Umstand, daß Shirley bereit war, Boy und Ken
in einem und demselben Atemzug als ihre Ehemänner zu bezeichnen, schockierte
Gemma noch mehr als die Erkenntnis, daß Shirley Boys Neigung richtig erraten
hatte.
»Der arme Onkel Ken«, sagte sie in dem Bemühen,
die Fassung wiederzugewinnen. »Ich denke immer wieder, wenn wir von unserem Spaziergang
nach Hause kommen, ist er bestimmt da...«
»Ja, ich habe Ewigkeiten gebraucht, um mich
daran zu gewöhnen. Ich will damit nicht sagen, daß ich darüber hinweggekommen
bin, denn das schafft man nie, nicht wahr?« sagte ihre Tante und nahm sich das
Stück Schwarzwälder Kirschtorte. »Ich glaube, es war leichter für mich«, fuhr
sie fort, »weil ich ihn sterben sehen habe. Im einen Moment war er noch
putzmunter, und im nächsten Augenblick war er, schwupp, hinüber, und das war es
dann. Er hat ein schönes Leben gehabt, und ihm war ein schnelles Ende beschert.
Was kann man denn sonst noch verlangen? Mit Stell dagegen ist es etwas ganz
anderes, verstehst du. Von ihr träume ich nämlich heute noch. Von Ken träume
ich nie. Er hat seinen Frieden gefunden... aber Stell... Ich denke immer noch,
es muß etwas gegeben haben, was ich hätte tun können.«
»Nein, ich bin ganz sicher, daß du nichts
hättest tun können, Tante«, sagte Gemma automatisch und nahm ihre Hand.
»Ich weiß nicht recht, Gem. Es vergeht nicht ein
einziger Tag, an dem ich nicht daran denke«, sagte Shirley versonnen. »Hat sie
angerufen, um sich zu verabschieden, oder war es ein Hilferuf, den ich nicht
verstanden habe...«
»Wann war das?« fragte Gemma unwillig.
»Wann sie mich angerufen hat? Am Abend, bevor
sie... du weißt schon...«
»Estella hat dich angerufen?« fragte Gemma
ungläubig. Sie war fassungslos. Wenn Shirley ihr erzählt hätte, Estella hätte
einen Anruf zum Premierminister durchstellen lassen, hätte sie nicht erstaunter
reagieren können.
»Ja, sie war in einer ziemlich üblen
Verfassung«, fuhr Shirley fort. »>Shirl<, hat sie gesagt, >ich habe
all meinen Kindern das Leben verpfuscht.« So ein Blödsinn, habe ich erwidert.
Du hast ihnen ein wunderbares Leben beschert. Aber davon wollte sie nichts
hören. Sie hat geweint. Ich konnte sie einfach nicht dazu bringen, daß sie
aufhörte zu weinen, und dann hat Ken gesagt: >Ist sie betrunken oder so
was?<, und ich habe zu ihr gesagt: >Stell, geh jetzt ins Bett, wir reden
morgen früh weiter<, aber dazu ist es nie gekommen...«
Zwei dicke Tränen rollten über Shirleys rundes
Gesicht. Sie fing an, in ihrer Handtasche rumzukramen.
»Hier.« Gemma reichte ihr ein frisches
Papiertaschentuch.
»Natürlich hat Stell sich nie in etwas reinreden
lassen. Niemals. Wenn sie sich zu etwas entschlossen hatte, dann hat sie es
auch getan...« Shirley schneuzte sich und sah sich um. Es gehörte sich nicht,
hier eine Szene zu machen, nicht im Palmenhof.
Früher hatten hier nach dem Tee
Tanzveranstaltungen stattgefunden. Sie erinnerte sich noch daran, wie sie sich
mit Stella an dem livrierten Pförtner vorbeigeschlichen hatte; sie hatten sich
in den Falten eines der staubigen nilgrünen Samtvorhänge versteckt und
schweigend beobachtet, wie die eleganten Leute Tee aus hauchdünnen
Prozellantassen nippten und sich langsam und anmutig auf der Tanzfläche
drehten. Und Stella hatte geflüstert: »Wenn ich groß bin, Shirl, dann werde ich
zu diesen Leuten gehören.« Dann hatte sie höhnisch gelacht und sie damit
verraten, und der Oberkellner hatte sie hinausgeworfen, und Stella hatte ihm
auf der Straße zugerufen: »Verpiß dich. Du bist ja doch nur ein verdammter
Diener.« Sie war frech. Aber sie konnte sich einiges leisten, weil die Leute
sagten, sie sähe aus wie Elizabeth Taylor in Kleines Mädchen, großes Herz.
»Jedenfalls«, sagte Shirley und nahm sich
zusammen, »können wir sie jetzt nicht mehr zurückholen.«
»Nein«, stimmte Gemma ihr zu und winkte einen
Kellner an den Tisch, um die Rechnung zu bezahlen.
»Was
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