Es gibt kein nächstes Mal
hast du am Tag des Sieges getan, Tante?
Kannst du dich noch erinnern?« fragte Gemma, als sie die Victoria Street
hinaufgingen.
»So klar und deutlich, als wäre es erst gestern
gewesen. In der letzten Zeit habe ich oft daran gedacht. Überall wird man daran
erinnert...« Shirley deutete auf die winzigen rotweißblauen Fähnchen, die über
ihren Köpfen flatterten. »Ich war natürlich in London, ich meine, wir waren
alle da. Ken war gerade erst nach Hause zurückgekehrt, und Stell hat ihn
mitgeschleift, und die beiden haben mich von der Arbeit abgeholt. Ich weiß
nicht, wie sie das geschafft hat. Dad hat sie im allgemeinen streng
rangenommen. Aber an jenem Abend war niemand dazu aufgelegt, jemandem etwas
abzuschlagen. Das hat er natürlich später bereut, der arme alte Kerl...«
»Warum denn das?« fragte Gemma.
»Tja, damals hat im Grunde genommen alles
angefangen. Stell hat an jenem Abend gesehen, was sie wollte: London, das
Leben, Männer. Sie war zwar erst zwölf, aber sie hat wesentlich älter
ausgesehen, und nach dieser Feier war sie nicht mehr zu bändigen...« Shirley
lächelte, als die Erinnerungen wieder wach wurden.
»Wir haben uns alle untergehakt, damit wir
einander nicht verlieren können, und wir sind überall gewesen... in der
Shaftesbury Avenue... auf dem Piccadilly Circus.« Ihre atemlose Aufzählung ließ
die Namen so exotisch klingen wie Xanadu. »Da war ein Kerl, der Trompete
gespielt hat, und wir haben getanzt. Alle Soldaten hatten nur noch Augen für
Stell... das war ja klar... und sie hat getanzt, bis sie umgefallen ist.
>Meine Güte<, hat Ken gesagt, >die wird ja später mal eine
Herzensbrecherin, Shirl...<«
»Und war sie das?« fragte Gemma fasziniert.
Shirley unterbrach sich, um Atem zu schöpfen.
Sie stützte sich auf ihren Stock und sah Gemma an, als fragte sie sich, ob sie
ihr trauen konnte. »Du weißt natürlich nichts von alledem, stimmt’s? Stell hat
dir nichts davon erzählt, nicht wahr?«
»Nicht wirklich«, sagte Gemma und fragte sich,
wie sie das erklären sollte, ohne grob zu werden. »Ich glaube, sie wollte
nicht, daß jemand etwas über ihre Vergangenheit erfährt...« Sie erinnerte sich
noch an Estellas finstere, drohende Miene, wenn sie es gewagt hatte, sie nach
ihrer Kindheit zu fragen.
»Nun ja, wahrscheinlich hat sie recht gehabt«,
sagte Shirley. »Wahrscheinlich sollte man nicht daran rühren...« Sie setzte
sich wieder in Bewegung.
»Nein, erzähl es mir...« Prickelnde Neugier war
in Gemma erwacht.
»In der heutigen Zeit würde man das alles nicht
mehr so ernst nehmen«, sagte Shirley, »aber damals herrschten andere Sitten...
Komm schon, sonst wirst du noch deinen Zug verpassen...«
Gemma warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Fast
hätte sie sich gesagt, von ihr aus solle der Zug ruhig ohne sie abfahren, aber
sie hatte Jonathan versprochen, ihm bei seinem Barbecue zu helfen, und sie
durfte ihn und die Kinder nicht im Stich lassen.
»Und dabei habe ich noch nicht einmal deine neue
Wohnung gesehen«, sagte sie, als sie sich aus dem Zugfenster beugte, um Shirley
einen Abschiedskuß zu geben. »Darf ich dich bald wieder besuchen?«
Shirley lächelte. Das war die Frage, die ihre
Nichte früher auch immer gestellt hatte, wenn sie sie in den Zug gesetzt hatte.
»Aber selbstverständlich«, sagte sie. »Wann
immer du willst!«
»Sie schien sehr gut in Form zu sein, wenn man
die Umstände bedenkt«, rief Gemma aus der Küche.
Sie inspizierte das letzte Salatblatt und
beschloß, daß es gründlich genug gewaschen war. Dann legte sie es gemeinsam mit
den übrigen Blättern in die Salatschleuder, ehe sie das Glas mit der
Vinaigrette nahm und es kräftig schüttelte.
»Sie wollte unbedingt über Estella reden. Aber
vermutlich ist das naheliegend. Es ist seltsam, aber sie hat mir ein ganz
anderes Bild von meiner Mutter vermittelt, als ich es bisher hatte... Ich
glaube, sie muß einen gewaltigen Skandal hervorgerufen haben... und dann war es
Zeit zu gehen. Ich glaube, ich fahre bald wieder hin. Ich wüßte liebend
gern...«
»Was?« fragte Jonathan und streckte den Kopf zur
Tür herein. Sein Gesicht war mit Ruß beschmiert. »Glaubst du, es soll wirklich
so lodern?« fragte er und sah beklommen in die Flammen unter dem Grill.
»Es wird schnell runterbrennen«, versicherte ihm
Gemma. »Wo hast du die Hühnerbeine hingetan?«
»Daddy, Daddy, Daddy!«
»Ja, David.«
»Gibt es auch Hamburger, Daddy?«
»Nein, mein Schatz, ich glaube, Gemma bereitet
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