Es ist ja so einfach
»Sieht genau wie ein schönes Kätzchen aus, das einen wehrlosen Kanarienvogel verspeist hat.«
Ich mußte lachen, weil ich John Muir wahrhaftig nicht gut mit einem wehrlosen Kanarienvogel vergleichen konnte.
Es war staunenswert, wie genau Trina über alle Vorgänge im Camp Bescheid wußte. Ich kenne niemanden, der so wenig neugierige Fragen stellt wie sie, und doch entging ihr nichts. Am nächsten Morgen erschien sie mit einem Gesicht, das vor Übermut strahlte, in meinem Zimmer. »Helen, das darfst du einfach nicht versäumen! Geh mal schnell zur Kabine der Boyds. Die Tür ist offen, du kannst die ganze Schau sehen. Hier ist der Brief, den ich vermißt hatte. Den hatte ich ihm geben wollen, konnte mir aber das Lachen nicht verbeißen und mußte machen, daß ich wegkam.«
Ich eilte hinüber. Wir hatten noch keine Schwierigkeiten mit Boyds. Sie waren Mustermieter, die ganz für sich allein blieben, abgesehen von einer sonderbaren Freundschaft mit der kleinen Jane Ingram im Nebenhäuschen, einem reizenden, temperamentvollen, etwa sechsjährigen Mädel, das mit dem zumeist furchterregenden Lionel Boyd sehr vertraulich umging.
»Mein Mann liebt Kinder«, hatte mir seine Frau gesagt, als ich mich einmal erkundigte, ob das kleine Mädchen ihnen etwa lästig werde. »Wir hatten nämlich nur Söhne, und er wollte immer gern eine Tochter haben. Jane ist ja ein sehr nettes Mädchen und stört uns nicht, außer bei der Post.«
Außer bei der Post? Darunter konnte ich mir nichts vorstellen, weil wir die Briefschaften stets persönlich sortierten und sie ihren Empfängern brachten. Für Mr. Boyd kam meistens eine beträchtliche Portion Briefe an. Und jetzt sollte ich selbst erleben, inwiefern Jane bei den Briefen lästig wurde.
Die Tür war weit offen. Ich klopfte trotzdem manierlich an, doch es ging drinnen viel zu laut her, als daß mich einer gehört hätte. Ich blieb stehen und betrachtete entzückt die Szene. Lionel Boyd brüllte buchstäblich vor Wut, und vor ihm stand die kleine Jane, keineswegs furchtsam, sondern jede Szene dieses Theaters auskostend.
»Wieder eine Rechnung! Die verdammte Garage. Mein Gott, sehe sich einer bloß mal an, was die einem für Kosten aufhalsen!« schrie der schwerreiche Boyd. »Nackter Raub, sage ich euch! Wird Zeit, daß wir aufs Auto verzichten.« Und der würdige und bedeutende Mann warf die Rechnung zu Boden.
Jane war außer sich vor Vergnügen und hatte offenbar noch nicht genug. »Hier ist noch eine!« rief sie, indem sie ihm ein großes Kuvert gab, das gewiß einen Kalender enthielt. »Schau mal, das muß ja eine kolossale Rechnung sein. Wie dick die schon aussieht! Oh, ich hoffe, daß diese dich zum Tanzen bringt!«
Das tat sie. Boyd riß mit einer heftigen Bewegung das Kuvert auf, warf es hin und zertrat es buchstäblich, während seine vielgeplagte Frau stumm zuschaute und Jane in die Hände klatschte. »Von diesem Lebensmittelkerl!« schrie Boyd. »Hab’ dir doch gesagt, daß der uns übers Ohr haut! Hier siehst du, weshalb — schickt einem zu Weihnachten so ein Riesending. Dafür bezahlen wir höhere Preise! Blutsauger sind’s, die ganze Bande!«
Und dann, als ich entfloh, Janes dünnes Stimmchen: »Machen Sie diesen noch auf, Mr. Boyd. Ich weiß, daß es ein guter sein muß, weil er hinten nicht zugeklebt ist. Ganz sicher wieder ein blutiger Sauger.« Und Mrs. Boyds schwacher Verweis an Jane, solche Ausdrücke nicht zu wiederholen.
Ich überließ sie sich selbst und fand es doch sehr interessant, daß ein Mann, der jährlich viele Tausende verdiente, wegen ein paar Rechnungen und eines harmlosen Kalenders wegen solche Szenen machte, während Peter und ich — die wir zusammen jährlich nur 160 Pfund sicheres Geld hatten — Rechnungen in endloser Folge bekamen und gar keine Kalender.
Als ich mich so zu Trina äußerte, zuckte ihr Gesichtchen vor Besorgnis. »Oh, liebe Helen, machst du dir gräßliche Sorgen? Wir werden nicht pleite gehen, nicht wahr? Wie man das überhaupt macht, weiß ich gar nicht, aber es ist eine ganz böse Sache. Mir ist es schrecklich, daß ich mich so an euch hefte.«
»Anheften? Quatsch«, sagte Peter, jetzt einmal ernst. »Du bist einen gewaltigen Arbeitslohn wert, und eines Tages sollst du den bekommen. Das Camp wird sich bezahlt machen.«
Sofort wurde sie wieder vergnügt. Sie war wirklich ein Quecksilber, und keiner konnte in ihrer Gesellschaft lange den Kopf hängen lassen. Ich wußte ja genau, daß sie zu ihrer Zeit auch triste
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