Es klopft
seine Werte, dass sein Gehör soweit in Ordnung sei und dass es sich bei dem Geräusch eines fahrenden Zuges, das er immer wieder zu hören glaube, um einen Tinnitus handle. Der Tinnitus sei eine Funktionsstörung des Gehörs, dessen Ursachen meist nicht eindeutig zu eruieren seien, er könne spontan auftauchen und auch spontan wieder verschwinden. Ob er möglicherweise, sei es privat oder beruflich, in einer Stresssituation stehe?
Herr Simonett lachte und sagte, wer Stress nicht aushalte, sollte nicht bei einer Bank arbeiten, er sei für Börsengeschäfte zuständig und spreche oft an zwei Telefonen gleichzeitig, und es störe ihn einfach, wenn er plötzlich das Gefühl habe, es fahre ein Eisenbahnzug durch seinen Hörer, und zwar so laut, dass er den andern nicht mehr verstehe, und ob es da nicht irgendein Antibiotikum gebe. Leider, sagte Dr. Manuel Ritter, gebe es keine erfolgversprechende medikamentöse Behandlung des Tinnitus, da es sich in der Regel um Geräusche handle, welche nur der Betroffene selbst wahrnehme, denn er selbst sei es, der die Geräusche erzeuge, beziehungsweise sein Innenohr.
Sein Patient lachte nicht mehr. »Dann muss man operieren?« fragte er.
Das mache man nur, wenn Veränderungen der Gefäße oder der Ohrmuskulatur die Ursache seien, da Herr Simonett aber nicht über Schwindel klage und das Geräusch auch nicht mit dem Puls synchron gehe, sehe es nicht nach einem objektivierbaren, sondern nach einem subjektiven Tinnitus
aus, der eben durch eine Art Fehlverhalten des Informations-systems des Ohres entstehe.
Der junge Mann war besorgt. Ob man denn dieses Fehlverhalten nicht korrigieren könne?
Man könne es versuchen, und er würde ihm raten, darüber nachzudenken, ob der dauernde Stress, unter dem er stehe, nicht vielleicht doch zuviel von ihm verlange und ob es allenfalls innerhalb der Bank eine andere Stelle gebe, die ihn weniger belaste.
»Aber mir gefällt der Job!« rief der Mann, und sein Gesichtsausdruck nahm etwas Verstörtes an, »gerade das Tempo, das es braucht!«
Er könne auch nicht auf Anhieb sagen, ob das die Lösung wäre -
Was denn aber die Lösung sei, fragte der Patient, von den Aussagen seines Arztes sichtlich in die Enge getrieben.
Eine Lösung könne z. B. auch darin bestehen, dass man versuche, mit dem Geräusch zu leben und Maßnahmen zu ergreifen, die dazu führten, dass man es nicht mehr als dermaßen störend empfinde.
Wie denn solche Maßnahmen aussähen, fragte Simonett.
Man könne versuchen, dieses Geräusch durch andere Geräusche zu maskieren, also wenn er z. B. neben einer Eisenbahnlinie wohnen würde, würde er ein Eisenbahngeräusch in seinem Ohr weniger befremdlich finden.
Herrn Simonetts Augen weiteten sich. Ob das ein Scherz sei, fragte er.
Keineswegs, sagte ihm Dr. Manuel Ritter, in diese Richtung könnten entsprechende Maßnahmen durchaus gehen. Natürlich könne man sich auch durch Musik im Frequenzbereich
der jeweiligen Störung oder durch andere Schalleffekte wie weißes Rauschen ablenken, er werde ihn jedenfalls gerne an einen Kollegen überweisen, dessen Spezialgebiet der Tinnitus sei und wo dann ganz genau abgeklärt werde, was in seinem Fall die Ursachen sein könnten, welche, wie gesagt, durchaus auch psychischer Natur sein könnten, er würde diesem einen kurzen Bericht zukommen lassen, und sein Reintonaudiogramm könne er, Herr Simonett, ihm selbst mitbringen oder er könnte es ihm auch mailen, falls er dies wünsche. Dr. Mannhart sei eine Kapazität auf diesem Gebiet, den er nur empfehlen könne.
Gut, sagte Simonett kleinlaut, gut, dann werde er sich dort anmelden. Er wolle bei der Bank bleiben und könne keine Eisenbahnzüge im Ohr brauchen.
Als der Patient das Sprechzimmer verlassen hatte, mit einem Schritt, der etwas weniger federnd war als beim Eintreten, blieb Manuel einen Moment sitzen und dachte nach.
Da klopfte es an die Tür, genau gleich, wie es schon heute Nacht und am Mittag geklopft hatte, drei schnelle Schläge. Er zuckte zusammen, reagierte aber weder mit einem »Herein!« noch damit, dass er zur Türe ging. Das hätte auch wenig geholfen, denn soeben war ihm klar geworden, woher das Klopfen kam, und er wunderte sich, wieso ihm das nicht früher in den Sinn gekommen war.
Er nahm den Hörer in die Hand, drückte die Nummer eins und bat Frau Zweifel, ihn mit Dr. Mannhart zu verbinden.
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A lso«, sagte Mirjam, »vierter Akt, zweite Szene. Wir drehen eine Seite des großen Buches um, das stünde hier, und
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