Es klopft
so traulich beisammen und haben einander so lieb«.
»Das gibt’s ja nicht«, sagte Ladina, »jetzt singen die.«
»Sie können es wenigstens«, sagte Mirjam.
Anna spürte einen Kloß im Hals. Sie hatte sich entsetzlich unwohl gefühlt an der Geburtstagsfeier. Thomas’ Großvater hatte sie, als sie ihm vorgestellt wurde, mit den Worten begrüßt: »Aha, gibt’s Urenkel?« was von Julia mit einem halb verständnisvollen, halb vorwurfsvollen »Aber, aber, Papa!« kommentiert wurde. Anna hatte nie ein solches Fest erlebt, von ihren Großeltern kannte sie nur die Mutter ihrer Mutter, und die war fast in ständigem Streit mit ihrer Tochter gelegen, solange diese noch lebte.
In dieser Familie, hatte sie gedacht, als sie am Tisch saß, wären keine drei Leute miteinander befreundet, wenn sie die Wahl hätten.
Manuel und Julia hatten ihr das Du angetragen heute, aber beim Gedanken, sie werde nun ein Mitglied dieser Gemeinschaft, schauderte sie. Und die Alten, was wollten sie noch, außer Urenkeln? Da saßen sie, die Todeskandidaten, und
sangen ein Lied wie einen letzten Wunsch, »ach, wenn es nur immer so blieb!« Das war es, was sie wollten, es sollte einfach immer so bleiben. Unmögliches verlangten sie, zweistimmig, Unmögliches und Grauenvolles. Als sie weitersangen »Es kann ja nicht immer so bleiben hier unter dem wechselnden Mond« kicherten die beiden Kusinen, »Gott sei Dank!«, sagte die eine zur andern, aber Anna spürte wieder ihren Kloß und wusste nicht, warum sie Lieder so anrührten. Nun winkte ihr Thomas’ Großmutter durch die Fensterscheibe zu, glücklich, rosarot, das Geburtstagskind.
Wie gut, dass mir das mit dem Lied in den Sinn gekommen ist, dachte Julia. Hoffentlich singen sie nicht noch ein drittes, dachte Gino.
Als sie später begannen, sich zu verabschieden, sagte Manuel zu Anna: »Haben wir eigentlich deine Telefonnummer?«
21
N ein, das ist nicht meine Mutter.«
Manuel stand mit Anna am Fenster seiner Praxis. Gestern hatte er sie gegen Abend angerufen und gefragt, ob sie zufällig Zeit habe, über Mittag kurz bei ihm vorbeizuschauen, er wolle sie etwas fragen. Mehrmals hatte er diesen schweren Satz für sich durchgemurmelt, um ihm am Telefon die größtmögliche Leichtigkeit zu verleihen. Offenbar war ihm dies gelungen, denn Anna war ohne Arg darauf eingegangen und kurz nach zwölf bei ihm erschienen.
Sie hatten sich auf die Patientenstühle vor seinem Schreibtisch gesetzt, und er hatte sie nach ihrem Gesundheitszustand gefragt und wollte wissen, bei welcher Ärztin sie in Kontrolle sei und ob alles in Ordnung sei mit der Schwangerschaft, hatte auch nochmals seine Hilfe angeboten für den Fall, dass sie sich anders entscheide. Dies hatte er sich so zurechtgelegt, damit das Treffen seinem Sohn und allenfalls auch Julia gegenüber unverdächtig war und als Wahrnehmung seiner ärztlichen Verantwortung durchging.
Ein bißchen hatte sich Anna gefürchtet hinzugehen, fand es aber dann richtig und notwendig, vor ihrem möglichen Schwiegervater Position zu beziehen. Bei der Geburtstagsfeier war kein Raum für solche Gespräche gewesen, doch nach dem, was sie von Thomas wusste, war sie mit der Erwartung gekommen, Manuel versuche sie zu einer Abtreibung zu bewegen, und war in Gedanken nochmals die Szene durchgegangen,
die sie mit Mirjam geprobt hatte. Es erstaunte sie, dass Manuel sie einzig fragte, ob sie sich ihren Entschluss gut überlegt habe, worauf sie antwortete, so etwas könne man sich schon überlegen, aber letztlich entscheide das Gefühl.
»Ich hoffe, dein Gefühl trügt dich nicht«, sagte er dann.
»Das hoffe ich auch«, sagte Anna. Sie versuchte die direkte Anrede wenn möglich zu vermeiden, da ihr das Du mit diesem Mann nicht leicht fiel.
Dann lachte Manuel fast spitzbübisch und sagte, letzthin sei ihm beim Aufräumen alter Patientengeschichten ein Foto in die Hände geraten, das er von einer Frau bekommen habe, welcher er sehr geholfen habe, und diese Frau habe ihn sofort an sie erinnert. Er stand auf, nahm von seinem Schreibtisch das Foto und hielt es ihr mit der Frage hin, ob das etwa ihre Mutter sei, vielleicht sogar mit der kleinen Anna auf dem Schoß.
Anna war auch aufgestanden, war mit dem Foto einen Schritt zum Fenster getreten, und dann hatte sie den erlösenden Satz gesagt.
»Nein, das ist nicht meine Mutter.«
Manuel war überwältigt, überwältigt wie damals, als er nach einem stundenlangen Aufstieg im Licht des Vollmonds den Gipfelgrat des Montblanc
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