Es klopft
müssen, als er mit 80 Jahren vor einem Rotlicht auf einen stehenden Wagen aufgefahren war.
Das Geburtstagskind hatte also nicht nur für ein Einfamilienhaus zu sorgen, das für zwei Menschen zu groß war, sondern auch noch für einen Menschen, welchem die Kenntnisse des praktischen Lebens immer mehr abhanden kamen. Brachte aber Julia das Gespräch auf einen Umzug, taten das ihre Eltern mit dem Satz ab, das könne man dann immer noch machen, wenn es einmal Zeit dazu sei. Prospekte
von Alterswohnungen und Seniorenresidenzen, welche sie ihnen mitbrachte, waren bei ihrem nächsten Besuch jeweils verschwunden, dafür wurde sie immer häufiger um Chauffeurdienste angegangen, für Zahnarzt- oder Physiotherapiebesuche. Wieso sie kein Taxi nähmen, fragte Julia jeweils am Telefon, und wenn Mutter das Wort wie eine Zumutung wiederholte, schrie ihr Vater aus dem Hintergrund ins Gespräch, das sei sauteuer. Da ihr Bruder Gino als Elektroingenieur bei den Engadiner Kraftwerken arbeitete und mit seiner Familie in Zernez wohnte, hatte sie die ganze Last der Elternpflege zu tragen.
Früher hatte sich Julia vorgestellt, wenn die Kinder einmal erwachsen wären, warte nochmals ein großes Stück Freiheit auf sie, sie sah das wie eine Belohnung für das Älterwerden an. Statt dessen war es offenbar so, dass dann die noch Älteren bestimmten, was man nun zu tun hatte. Nachdem Manuels Eltern gestorben waren, der Vater vor vier Jahren und die Mutter vor zwei, galt es, ihr ganzes Haus zu räumen, eine Arbeit, die wegen der beruflichen Belastung Manuels und dessen Bruder Max weitgehend an ihr und ihrer Schwägerin hängen geblieben war und welche Julia zeitweise mit einer unglaublichen Wut auf all den Ramsch erfüllte, den ihre Schwiegereltern in ihrem viel zu geräumigen Haus, in Dachboden, Keller und Garage gehortet hatten, und ihr Herz hüpfte, wenn Schirmständer, Bilderrahmen, Schuhkästen, Nachttischchen und Ständerlampen in die Abfallmulde vor dem Haus krachten.
Julia schaute durch den Nebel zum oberen Tischende und wurde auf einmal von einem Grauen gepackt, einem Grauen vor der Zeit jenseits von 80. Onkel Markus, der ältere Bruder
ihrer Mutter, war allein gekommen, weil seine Frau mit Alzheimer im Pflegeheim war und niemanden mehr kannte, oft nicht einmal mehr ihren Mann, und von den zwei Schwestern ihres Vaters war die eine geschieden, die andere verwitwet, sie lebten allein in ihren Fünfzimmerwohnungen und langweilten sich, die eine in Burgdorf, die andere in St. Gallen, ließen sich das Essen von der »Spitex« bringen und dachten nicht daran, vielleicht zusammenzuziehen, um sich gegenseitig zu unterstützen oder in ein Altersheim zu gehen, wo sie einige Sorgen los wären. Die eine sah fast nichts mehr und konnte höchstens noch eine halbe Stunde am Tag lesen. Julia hatte ihr letzthin einen tragbaren Radioapparat mit einem Kassettenspieler gebracht, damit sie sich das reichhaltige Vorleseprogramm der Blindenhörbücherei zunutze machen könnte, doch ihre Tante zitterte derart, dass sie es nicht mehr fertig brachte, eine Kassette in den Recorder einzuschieben.
War das ihre Zukunft, diese steinernen Gäste, die sich jetzt oben am Tisch mit angehobenen, brüchigen Stimmen über künstliche Hüftgelenke, Oberschenkelhalsbrüche und »Wetten, dass …?« unterhielten, sofern sie sich überhaupt noch verstanden und nicht einfach vor sich hin starrten, in die Rauchwolken vor ihren Gesichtern, wie ihr Vater?
»Wollen wir nicht noch eins singen?« schlug Julia plötzlich vor, verzweifelt fast.
Ratlose, überraschte Gesichter.
»Was denn für eins?« fragte Gino spöttisch.
»Mama, du kannst wünschen«, sagte Julia, und zu ihrem
Erstaunen stimmte ihre Mutter mit schöner, klarer Stimme an »Hab oft im Kreise der Lieben«, und sofort fielen ihr Bruder und die beiden Tanten ein, »im duftigen Grase geruht«,
und als es an den Refrain ging, sang sogar ihr Mann mit, mühelos eine Terz tiefer, »und alles, alles ward wieder gut.«
Weder Julia noch Manuel noch Gino noch Letizia konnten den Text und die Melodie auswendig, summten ein bißchen mit und hörten verwundert, zu wieviel Schönheit das greise Grüppchen noch imstande war, es war ihr, als habe jemand mit einem Zauberstab an eine Felswand geklopft, aus der nun auf einmal eine Quelle sprudelte.
Als die Jungen vom Minigolf zurückkamen, standen sie vor den hohen Fensterscheiben still und blickten in das neblige Säli hinein, aus dem ihnen ein Lied entgegenklang, »Wir sitzen
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