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Es: Roman

Es: Roman

Titel: Es: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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seine Stimme immer einen tieferen Klang als gewöhnlich und hörte sich fast wie die Stimme des Mannes an, der er einmal sein würde. Silver gewann langsam an Geschwindigkeit – das schneller werdende Klappern der Spielkarten war der beste Beweis dafür. Bill trat stehend in die Pedale, seine Hände umklammerten mit nach oben zeigenden Handgelenken die Lenkergriffe. Er sah aus wie jemand, der eine besonders schwere Langhantel zu stemmen versuchte. Seine Halsmuskeln traten hervor, die Adern in den Schläfen pochten wie wild, und der Mund war vor Anstrengung leicht geöffnet, während er den üblichen Kampf gegen Gewicht und Trägheit führte.
    Die Anstrengung lohnte sich. Wie immer.
    Silver bewegte sich schneller und schneller. Häuser flogen vorbei. Und schon war er an der Stelle, wo links von ihm der Kenduskeag zum Kanal wurde, wo die Kansas Street die Jackson Street kreuzte und danach bergabwärts führte, auf Derrys Geschäftsviertel zu.
    Hier gab es viele Querstraßen, aber Bill hatte überall Vorfahrt, und es war ihm nie in den Sinn gekommen, dass ein Autofahrer einmal eines der Stoppschilder missachten und ihn überfahren könnte. Doch selbst wenn ihn jemand auf diese Möglichkeit aufmerksam gemacht hätte, hätte er seine Fahrweise sicher nicht geändert. Vielleicht hätte er es an einem früheren oder späteren Zeitpunkt seines Lebens getan, aber der Frühling und Frühsommer dieses Jahres waren für ihn eine sonderbare und gewitterhafte Zeit gewesen. Ben wäre erstaunt gewesen, wenn ihn jemand gefragt hätte, ob er einsam sei; Bill wäre ebenso erstaunt gewesen, wenn ihn jemand gefragt hätte, ob er sein Leben riskiere. N-N-Nat-t-türlich n-n-nicht!, hätte er sofort (und entrüstet) geantwortet, aber das änderte nichts an der Tatsache, dass seine Fahrten die Kansas Street hinab zur Stadt zunehmend Ähnlichkeit mit einem selbstmörderischen Banzai-Angriff hatten.
    Dieser Abschnitt der Kansas Street wurde Up-Mile Hill genannt. Bill sauste diesen Hügel mit voller Geschwindigkeit und wehenden Haaren hinab, tief über Silvers Lenkstange gebeugt, um den Luftwiderstand möglichst gering zu halten, eine Hand an der Hupe, um Unvorsichtige warnen zu können. Das Klappern der Spielkarten war in ein stetes Dröhnen übergegangen. Die Geschäftshäuser auf der rechten Straßenseite (hauptsächlich Großhandelsfirmen und Großschlachtereien) flogen an ihm vorüber, ebenso wie der Kanal zu seiner Linken.
    »HI-YO, SILVER, LOOOS!«, schrie er triumphierend.
    Silver sauste über den ersten Bordstein. Wie fast immer verloren seine Füße dabei den Kontakt zu den Pedalen, und er war einen Augenblick lang ganz besonders auf die Gunst jener Götter angewiesen, die kleine Jungen beschützen. Er schwenkte in die Straße ein und überschritt dabei das Tempolimit von vierzig Kilometern pro Stunde um mindestens fünfundzwanzig.
    Nun lag alles hinter ihm: sein Stottern, der trostlos leere Blick seines Vaters, wenn er in seinem Hobbyraum herumwerkelte, der Staub auf dem geschlossenen Klavierdeckel – seine Mutter spielte nicht mehr; zuletzt hatte sie am Tag von Georgies Beerdigung gespielt, drei methodistische Choräle. Nun hatte er das alles hinter sich gelassen. Georgie, der in seinem gelben Regenmantel in den Regen hinausgelaufen war, sein Boot aus Zeitungspapier mit dem leichten Paraffinglanz in der Hand. Und dann Mr. Gardener an der Tür, mit Georgies Leiche, die in eine Decke voller Schmutz- und Blutflecken gehüllt war. Der entsetzte Aufschrei seiner Mutter. All das lag jetzt hinter ihm. Er war der Lone Ranger, er war John Wayne, er war Bo Diddley, er war jeder, der er sein wollte, er wollte ein Held sein, keine Heulsuse, die sich hinter ihrer M-M-Mutter versteckte.
    Silver flog dahin und Stotter-Bill Denbrough mit ihm. Sie rasten zusammen Up-Mile Hill hinab. Die Spielkarten dröhnten. Bill trat wild in die Pedale – er wollte noch schneller sein, er wollte eine hypothetische Geschwindigkeit erreichen, nicht die des Lichtes, sondern jene der Erinnerungen, er wollte diese Geschwindigkeitsgrenze überwinden und die Erinnerungen für immer hinter sich zurücklassen.
    Über die Lenkstange gebeugt, sauste er dahin; er sauste dahin, um den Teufel zu schlagen.
    Nun lag die große Kreuzung von Kansas Street, Center Street und Main Street vor ihm. Diese Kreuzung war ein Horror für jeden Fahrer, ein einziges Durcheinander von Einbahnverkehr, sich widersprechenden Verkehrszeichen und Ampeln, deren Schaltungen aufeinander abgestimmt

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