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Es: Roman

Es: Roman

Titel: Es: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Georgies Fotoalbum geschaut.
    Am Abend des Tages jedoch, als er Ben Hanscom zum ersten Mal getroffen hatte, öffnete Bill Georges Schranktür (wobei er sich wie immer darauf einzustellen versuchte, dass er im nächsten Augenblick George sehen würde, stocksteif in seinem Regenmantel zwischen den hängenden Kleidungsstücken stehend, dass eine weiße Hand mit Schwimmhäuten plötzlich aus dem Dunkeln hervorschießen und ihn am Arm packen würde) und holte das Album vom obersten Fach.
    MEIN ALBUM stand in goldenen Lettern auf dem Einband. Und darunter, in sorgfältig gemalten, kindlichen Druckbuchstaben, auf einem – inzwischen abblätternden und gelblichen – Klebestreifen: GEORGE ELMER DENBROUGH, 6 JAHRE ALT. Mit noch lauterem Herzklopfen als sonst trug Bill das Album zum Bett, in dem Georgie immer geschlafen hatte. Was ihn veranlasst hatte, das Album wieder hervorzuholen, konnte er nicht sagen. Nach dem Erlebnis im Dezember …
    Ein zweiter Blick, das ist alles. Nur um dich zu überzeugen, dass es beim ersten Mal nicht real gewesen ist. Dass dir beim ersten Mal dein Kopf einen Streich gespielt hat.
    Nun, es war jedenfalls so eine Idee.
    Vielleicht stimmte es sogar. Aber Bill vermutete, es war einfach das Album selbst. Es erfüllte ihn mit einer gewissen irren Faszination. Was er gesehen oder was er sich eingebildet hatte …
    Er öffnete das Album mit Fotos, die Georgie seinen Eltern, Onkeln und Tanten abgebettelt und sorgfältig eingeklebt hatte. Es war Georgie egal gewesen, ob er die Personen kannte oder nicht; ihn hatte die Idee der Fotografie an sich interessiert, und wenn er keine neuen Fotos zum Einkleben hatte, hatte er im Schneidersitz auf seinem Bett gesessen und sich die alten angeschaut; und nun saß Bill auf diesem Bett, blätterte behutsam die großen Seiten um und betrachtete die Schwarzweißfotos. Seine Mutter als junges, unglaublich hübsches Mädchen; sein Vater, nicht älter als achtzehn, ein Gewehr in der Hand, neben drei anderen lächelnden bewaffneten Männern über einem erlegten Hirsch stehend; Onkel Hoyt, der auf einem Felsen stand und einen Hecht hochhielt; Tante Fortuna, die neben einem Korb selbstgezüchteter Tomaten kniete; ein alter Buick; eine Kirche; ein Haus; eine Straße, die von hier nach da führte. Die vielen Bilder, Schnappschüsse, die vergessene Leute aus vergessenen Gründen gemacht hatten, hier oben, im Fotoalbum eines toten Jungen eingesperrt.
    Auf einem Foto sah Bill sich selbst im Alter von drei Jahren in einem Krankenhausbett; ein Verband verbarg seine Haare; ein anderer führte über die Wangen um sein gebrochenes Kinn herum. Er war damals auf einem Parkplatz vor dem A&P in der Center Street von einem Auto angefahren worden. Er erinnerte sich kaum noch daran, nur dass er im Krankenhaus Eiscreme-Milchshakes durch einen Strohhalm getrunken hatte und dass er tagelang furchtbares Kopfweh gehabt hatte.
    Hier war die ganze Familie auf dem Rasen vor dem Haus – Bill stand neben seiner Mutter und hielt ihre Hand, George – ein Baby – schlief auf Zacks Armen. Und hier …
    Es war das letzte Foto. Die übrigen Seiten des Albums waren leer. Georges Schulfoto, aufgenommen im Oktober des Vorjahres, weniger als zehn Tage vor seinem Tod. George trug einen Pullover mit rundem Halsausschnitt, und sein weiches, normalerweise immer verstrubbeltes Haar war unter Zuhilfenahme von Wasser glatt an den Kopf gekämmt. Er grinste, wobei zwei Zahnlücken sichtbar wurden – nun würden dort nie mehr neue Zähne wachsen; es sei denn, dass sie auch nach dem Tod weiterwachsen, dachte Bill schaudernd.
    Er starrte eine ganze Weile auf dieses Foto und wollte das Album gerade wieder schließen, als das, was im Dezember passiert war, wieder passierte.
    George rollte – wie beim letzten Mal – mit den Augen und begegnete Bills Blick. Georges gekünsteltes Fotolächeln verwandelte sich in ein entsetzliches Grinsen. Sein rechtes Auge schloss sich blinzelnd. Man sieht sich, Bill. In meinem Schrank. Vielleicht schon heute Nacht.
    Bill Denbrough schleuderte das Album durchs Zimmer und presste die Hände vor den Mund.
    Das Album prallte gegen die Wand und fiel aufgeschlagen zu Boden. Die Seiten blätterten sich um, obwohl es keinen Luftzug gab; Georges Fenster war fest geschlossen. Sie blätterten sich ganz von allein um, bis zu jenem schrecklichen Foto, unter dem SCHULFREUNDE 1957-58 stand.
    Blut floss aus dem Foto heraus.
    Bill saß wie versteinert da; seine Zunge war ein geschwollener würgender

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