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Es: Roman

Es: Roman

Titel: Es: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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zurück, wo er sie kurz zuvor eingesammelt hatte. Bill war hereingekommen und hatte seinen Vater neben Georges Bett knien sehen (seine Mutter bezog es immer noch frisch, nur dass sie es jetzt einmal in der Woche machte anstatt zweimal wie zu Georgies Lebzeiten), den Kopf in seinen muskulösen, behaarten Armen vergraben. Erschrocken hatte Bill festgestellt, dass sein Vater weinte, und das steigerte seine Angst noch. Eine schreckliche Möglichkeit eröffnete sich ihm plötzlich: Was ist, wenn etwas Schlimmes geschieht, und es dann nicht mehr aufhört? Wenn alles immer schlimmer wird, bis alles komplett aus dem Ruder gelaufen ist?
    »D-D-Dad …«
    »Geh, Billy«, hatte sein Vater gesagt. Seine Stimme klang erstickt und schwankte. Sein Rücken hob und senkte sich, und Bill hätte ihm gern die Hand auf den Rücken gelegt, traute sich aber nicht. »Lass mich allein.«
    Er war durch den Flur geschlichen und hatte seine Mutter unten in der Küche weinen gehört. Es klang schrill und hilflos, und Bill hatte gedacht: Warum weinen sie so weit voneinander entfernt? Er hatte keine Antwort auf diese Frage gefunden.

9
     
    Am ersten Abend der Sommerferien ging Bill in Georgies Zimmer. Sein Herz klopfte laut in seiner Brust, und seine Beine fühlten sich steif und bleischwer an. Er war oft in Georges Zimmer, aber das hieß nicht, dass er gern hier war. Georgie war in diesem Zimmer noch so gegenwärtig, und manchmal hatte Bill das Gefühl, dass es dort spukte … dass die Schranktür sich plötzlich knarrend öffnen und Georgie zum Vorschein kommen würde, zwischen seinen Hemden und Hosen, die immer noch ordentlich dort hingen, ein Georgie in gelbem Regenmantel voller roter Flecken, von dem ein leerer Ärmel schlaff herabhing. Georgies Augen würden leer und schrecklich sein, wie die Augen eines Zombies in einem Horrorfilm, und seine Gummistiefel würden quietschen und auf dem Teppich nasse Spuren hinterlassen, wenn er auf sein Bett zugehen würde, wo Bill schreckensstarr saß …
    Wenn eines Tages der Strom ausfallen sollte, während er hier auf Georges Bett saß und auf die Bilder an den Wänden oder die Modelle auf der Kommode starrte, war er sich sicher, dass er einen Herzinfarkt erleiden würde, vermutlich einen tödlichen -, aber trotzdem zog es ihn immer wieder dorthin. Gegen die Angst anzukämpfen, dass George als entsetzliches, auf Rache sinnendes Gespenst zurückkommen könnte, gehörte für Bill zu der Notwendigkeit, irgendwie mit Georges brutalem Tod fertigzuwerden. Er wollte ihn nicht vergessen, er wollte nur einen Weg finden, dass er ihm nicht mehr so grausig vorkam. Er begriff undeutlich, dass seine Eltern mit dieser Aufgabe nicht gut zurechtkamen, und wenn er es schaffen wollte, musste es ihm ganz allein gelingen.
    Aber er kam nicht nur seinetwegen; er kam auch wegen Georgie. Er hatte George wirklich geliebt, und für Brüder waren sie gut miteinander klargekommen. Oh, sie hatten ihre beschissenen Augenblicke gehabt – Bill verpasste George manchmal einen Satz heißer Ohren, George verpetzte Bill, wenn er sich nachts noch zum Kühlschrank schlich und den Rest vom Zitronenzuckerguss aß -, aber sie waren weitgehend gut miteinander ausgekommen. Schlimm genug, dass George tot war. Dass sich George für ihn in eine Art Horrormonster verwandelte, war aber noch schlimmer.
    Er vermisste den Kleinen. Er vermisste seine Stimme, sein Lachen, seine vertrauensvoll zum älteren Bruder aufblickenden Augen, die sich ganz sicher waren, dass Bill auf alles eine Antwort hatte. Und obwohl er manchmal Angst vor Georges Zimmer hatte, spürte er zu anderen Zeiten, dass er George am meisten liebte, wenn er Angst hatte, denn sogar in seiner Angst – in dieser unheimlichen Vorstellung, dass ein Zombie – George im Schrank oder unter dem Bett sein könnte – gelang es ihm hier am besten, sich daran zu erinnern, wie sehr er George geliebt hatte, und wie sehr er von George geliebt worden war. In der Kombination dieser beiden Gefühle – seiner Liebe und seiner Angst – glaubte Bill der Erkenntnis am nächsten zu sein, wie man das schreckliche Geschehen letztlich doch verarbeiten könnte.
    Das alles waren Gedanken, die er nicht aussprechen konnte; in seinem Verstand waren sie nur ein zusammenhangloses Durcheinander. Aber sein gütiges und liebendes Herz verstand sie, und das allein zählte.
    Manchmal blätterte er in Georgies Büchern, manchmal stöberte er in Georgies Spielsachen.
    Aber er hatte seit Dezember des Vorjahres nicht mehr in

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