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Es: Roman

Es: Roman

Titel: Es: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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diesem Moment hatte sie sich nur geschämt und war zutiefst verletzt gewesen. Und dann hatte jemand gelacht. Es war ein hohes, schrilles, kicherndes Lachen gewesen, wie eine schnelle Abfolge von Noten auf dem Klavier. Im Auto konnte sie endlich weinen, ja, die kleine Juden-Meerjungfrau weinte sich die Augen aus dem Kopf. Als Michael ungeschickt versucht hatte, sie zu trösten, indem er ihr über den Nacken strich, hatte sie seine Hand weggestoßen – sie hatte sich geschämt, sich schmutzig gefühlt, sich jüdisch gefühlt.
    Das so geschmackvoll hinter niedrigen Eibenhecken liegende Haus machte manches leichter … aber nicht hundertprozentig gut. Die Kränkung und die Scham waren immer noch vorhanden, und nicht einmal das Bewusstsein, in dieser friedlichen, wohlhabenden Umgebung akzeptiert zu sein, konnte die alte Wunde völlig heilen und das knirschende Geräusch ihrer Schuhe auf dem Kiesweg für immer verstummen lassen. Ebenso wenig die Tatsache, dass sie Mitglieder im Country Club waren und dass der Geschäftsführer sie immer respektvoll mit »Guten Abend, Mr. und Mrs. Uris« begrüßte. Wenn sie in ihrem bequemen neuen Volvo nach Hause kam und ihr Haus auf der großen grünen Rasenfläche betrachtete, hoffte sie – und vermutlich hoffte sie das ein bisschen zu oft -, dass jenes Mädchen, das damals gelacht hatte, in irgendeiner beschissenen Bruchbude lebte, von seinem Ehemann geprügelt wurde und drei Fehlgeburten gehabt hatte; sie hoffte, dass der Ehemann dieses Mädchens es mit geschlechtskranken Frauen betrog, dass es eine Hängebrust, Plattfüße und Geschwüre auf der dreckig lachenden Zunge hatte.
    Sie hasste sich selbst wegen dieser Gedanken, dieser hartherzigen Gedanken, und nahm sich selbst das Versprechen ab, sich zu bessern, nicht mehr von diesem Cocktail aus Verbitterung und Wehmut zu trinken. Manchmal vergingen Monate, in denen sie solche Gedanken nicht hatte, und dann dachte sie: Vielleicht liegt das alles jetzt endlich hinter mir. Ich bin nicht mehr das achtzehnjährige Mädchen, ich bin eine Frau, eine sechsunddreißigjährige Frau. Jenes Mädchen, das das schier endlose Knirschen der Steinchen auf dem Kiesweg gehört hat, das Michael Rosenblatts tröstende Hand wegstieß, weil es eine jüdische Hand war, gab es seit einem halben Leben nicht mehr. Diese dumme kleine Meerjungfrau ist tot. Ich kann sie jetzt vergessen und ganz ich selbst sein. Okay. Gut. Toll. Aber dann wieder brauchte sie nur irgendwo zu sein – beispielsweise im Supermarkt – und aus dem Nebengang plötzlich ein schrilles, kicherndes Lachen zu hören, und schon lief ihr ein Schauder den Rücken hinab, ihre Brustwarzen wurden hart und empfindlich und rieben sich an ihrem BH, ihre Hände umklammerten den Griff des Einkaufswagens oder umklammerten einander, und sie dachte unwillkürlich: Jemand hat gerade jemand anderem erzählt, dass ich Jüdin bin, dass ich ein Itzig und Shylock bin, dass auch Stanley ein Itzig und Shylock ist, er ist Wirtschaftsprüfer und du weißt ja, diese Juden, sie verstehen sich gut auf Zahlen, wir lassen sie in den Country Club, wir können nicht anders, wir mussten es erlauben, nachdem 1981 jener schlaue Itzig-Doktor seinen Prozess gewann, aber wir lachen über sie, sobald sie uns den Rücken kehren, lachen wir über sie, wir lachen und lachen. Oder sie hörte das Knirschen von Kies und dachte nur: Meerjungfrau! Meerjungfrau!
    Dann überwältigten Hass und Scham sie wieder wie ein entsetzlicher Migräneanfall, und sie verzweifelte nicht nur an sich selbst, sondern an der ganzen menschlichen Rasse. Werwölfe – das Buch von Denbrough, das sie zu lesen versucht und dann zur Seite gelegt hatte, handelte von Werwölfen. Werwölfe! Was wusste ein solcher Mann schon von Werwölfen?
    Aber meistens ging es ihr viel besser – hatte sie das Gefühl, sie war besser. Sie liebte ihren Mann, sie liebte ihr Haus, und meistens war sie sogar imstande, ihr Leben und sich selbst zu lieben. Alles war gut. Das war nicht immer so gewesen; als sie sich mit Stanley verlobt hatte, waren ihre Eltern darüber unglücklich und wütend gewesen. Patricia hatte ihn auf einer College-Party kennengelernt. Er war mit einigen Freunden von der New York State University hergekommen, wo er als Stipendiat studierte, und als der Abend zu Ende ging, glaubte sie, ihn zu lieben. Als es Winter wurde, war sie sich ihrer Gefühle ganz sicher. Und als Stanley ihr im Frühling einen schmalen Diamantring schenkte, nahm sie ihn an.
    Ihre Eltern

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