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Es: Roman

Es: Roman

Titel: Es: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Rummelplatz, Wimpel flatterten, Zelte blähten sich, stürzten ein, flogen fort wie Fledermäuse aus Leinwand. Er sah leere Karussells, die sich wie Gerüste gegen den Himmel abhoben, während der Wind durch ihre seltsam angewinkelten Rohre pfiff. Er verstand plötzlich, dass an diesem Ort der Tod lauerte, dass der Tod aus der Dunkelheit auf ihn zukam und er nicht fortlaufen konnte.
    Er hörte das Rauschen von Wasser. Es rieselte und tropfte die Stufen hinab. Jetzt roch es nicht mehr nach Popcorn und Zuckerwatte, sondern nach nasser Verwesung, nach totem Fleisch, das irgendwo im Verborgenen verfaulte und in dem es von Maden nur so wimmelte.
    »Wer ist da?«, schrie er mit hoher, zitternder Stimme. Und er erhielt eine Antwort – von einer leisen, blubbernden Stimme, die von Schlamm und fauligem Wasser fast erstickt zu werden schien.
    »Die Toten, Stanley. Wir sind die Toten. Wir sind untergegangen, aber jetzt fliegen wir … und auch du wirst fliegen.«
    Er spürte, wie Wasser seine Füße umspülte. Er drückte sich in Todesangst noch enger an die Tür. Sie waren jetzt ganz nahe. Er fühlte ihre Nähe. Er konnte sie riechen. Etwas presste sich in seine Hüfte, als er immer wieder vergeblich versuchte, die Tür aufzudrücken, um ins Freie zu entkommen.
    »Wir sind tot, aber manchmal albern wir ein bisschen herum, Stanley. Manchmal …«
    Es war sein Vogelalbum.
    Ohne zu überlegen, griff Stanley danach. Es hatte sich in seiner Manteltasche festgeklemmt. Es ließ sich nicht herausziehen. Einer der beiden Toten war jetzt schon unten angelangt. Stanley hörte ihn über den Steinboden vor ihm schlurfen. Im nächsten Augenblick würde der Tote seine Hände ausstrecken, und er würde das kalte Fleisch auf seiner Haut spüren.
    Er zerrte heftig, und dann hatte er das Vogelalbum in der Hand. Er hielt es mit beiden Händen vor sich wie einen winzigen Schild, ohne darüber nachzudenken, was er tat; er war sich plötzlich sicher, dass es das Richtige war.
    »Rotkehlchen!«, schrie er in die Dunkelheit hinein, und einen Moment lang zögerte das Wesen, das sich ihm näherte (es war nicht einmal mehr fünf Schritte von ihm entfernt) – er war sich fast sicher, dass es zögerte. Und hatte er nicht auch gespürt, dass die Tür ein klein wenig nachgab, gegen die er sich zitternd gelehnt hatte?
    Aber er zitterte gar nicht mehr. Er stand hoch aufgerichtet in der Dunkelheit. Wann war das passiert? Keine Zeit für solche Fragen. Er leckte sich die trockenen Lippen und begann zu singen: »Rotkehlchen! Graureiher! Seetaucher! Scharlachtangare! Grackeln! Spechte! Meisen! Zaunkönige! Peli…«
    Die Tür öffnete sich mit einem lauten, protestierenden Schrei. Stan machte einen Riesenschritt nach hinten in die dünne, neblige Luft und fiel dann der Länge nach ins feuchte Gras. Er hatte das Vogelalbum so weit auseinandergebogen, dass es beinahe in zwei Hälften zerfiel, und später am Abend stellte er anhand der deutlichen Fingerabdrücke fest, dass er seine Finger richtiggehend in den festen Einband gekrallt haben musste.
    Er versuchte nicht aufzustehen, sondern stemmte sich mit den Beinen ab und begann, durch das nasse Gras rückwärts zu kriechen. Er fletschte die Zähne. In dem schwarzen Rechteck unter der diagonalen Schattenlinie der halb offenen Tür konnte er zwei Beinpaare sehen. Er konnte Jeans erkennen, die rötlich schwarz verfärbt waren. Orangefarbene Fusseln klebten an den Säumen, Wasser tropfte von den Aufschlägen und bildete Pfützen um Schuhe, die größtenteils verfault waren, sodass er aufgequollene, purpurne Zehen darin erkennen konnte.
    Die Hände hingen schlaff an ihren Seiten herab, viel zu lang und wachsweiß. An jedem Finger hing ein orangefarbener Pompon.
    Sein Vogelalbum immer noch aufgeschlagen vor sich haltend, das Gesicht von Sprühregen, Schweiß und Tränen überströmt, flüsterte Stan heiser und monoton vor sich hin: »Hühnerhabichte … Kernbeißer … Kolibris … Albatrosse … Kiwis …«
    Eine der Hände drehte sich und zeigte eine Handfläche, von der endloses Wasser sämtliche Linien ausgewaschen und etwas so absurd Glattes zurückgelassen hatte wie die Hand einer Schaufensterpuppe.
    Ein Finger krümmte sich … streckte sich … krümmte sich. Der Pompon baumelte hin und her.
    Das Ding winkte ihn zu sich.
    Stan Uris, der siebenundzwanzig Jahre später mit aufgeschnittenen Pulsadern in einer Badewanne sterben würde, rappelte sich erst auf die Knie, dann auf die Füße und rannte. Er überquerte

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