Es: Roman
auch von seinem Vater entführt?«, fragte ich.
Wieder eine lange Pause.
»Lassen Sie die Sache auf sich beruhen, Hanlon«, sagte er schließlich. »Und lassen Sie mich endlich in Ruhe.«
Er legte den Hörer auf.
Natürlich lese ich Zeitungen – schließlich lege ich sie jeden Morgen höchstpersönlich im Lesesaal aus. Das kleine Mädchen, Laurie Ann Winterbarger, war in der Obhut seiner Mutter, nachdem es ihr im Frühjahr 1982 nach einem erbitterten gerichtlichen Sorgerechtsstreit zugesprochen worden war. Die Polizei vertritt die Auffassung, dass Horst Winterbarger, der irgendwo in Florida als Maschinist arbeiten soll, nach Maine gefahren ist und seine Tochter entführt hat. Man vermutet, dass er sein Auto neben dem Haus geparkt und seine Tochter gerufen hat – das ist die Erklärung der Polizei für das Fehlen weiterer Fußspuren. Viel weniger äußert die Polizei sich zu der Tatsache, dass das Mädchen seinen Vater nicht mehr gesehen hatte, seit es zwei Jahre alt gewesen war. Die Mutter hatte bei der Scheidung gebeten, das Gericht solle ihrem Mann jedes Besuchsrecht absprechen, weil er das kleine Mädchen mindestens zweimal sexuell belästigt habe; und obwohl Horst Winterbarger das energisch bestritten hatte, war dem Antrag der Mutter stattgegeben worden. Rademacher vertritt die Ansicht, dass Winterbarger durch diesen Gerichtsbeschluss, der ihn völlig von seinem einzigen Kind abschnitt, zu der Entführung getrieben wurde. Diese Möglichkeit ist nicht auszuschließen, aber urteilen Sie selbst: Hätte die kleine Laurie Ann ihren Vater nach drei Jahren wiedererkannt und wäre zu ihm gelaufen, als er sie rief? Rademacher behauptet das, obwohl sie erst zwei Jahre alt war, als sie ihren Vater zuletzt sah. Ich halte das für ausgeschlossen, besonders da Laurie Anns Mutter auch noch sagt, sie habe der Kleinen beigebracht, nicht mit Fremden zu reden – eine Lektion, die die meisten Kinder in Derry frühzeitig lernen. Rademacher sagt, die Polizei von Florida suche jetzt nach Winterbarger, und damit falle die Sache nicht mehr in seine Zuständigkeit.
»Für das Sorgerecht sind in erster Linie Anwälte zuständig, nicht die Polizei«, wird dieses großkotzige fette Arschloch in der Freitagsausgabe der Derry News zitiert.
Aber der Torrio-Junge … da ist die Lage ganz anders. Wunderbares Elternhaus. Spielte Football für die Derry Tigers. Hervorragender Schüler. Hatte im Sommer 1984 die Outward-Bound-Survival-Schule mit Auszeichnung absolviert. Kein Drogenkonsum. Hatte eine Freundin, in die er offensichtlich mächtig verknallt war. Hatte alles, wofür es sich zu leben lohnt. Alles, um in Derry zu bleiben, wenigstens die nächsten paar Jahre.
Trotzdem ist er weg.
Nun, was ist mit ihm passiert? Ein plötzlicher Anfall von Wanderlust? Ein betrunkener Autofahrer, der ihn vielleicht angefahren, tödlich verletzt und dann irgendwo begraben hat? Oder ist er vielleicht immer noch in Derry, irgendwo dort unten, und leistet Betty Ripsom und Patrick Hockstetter und Eddie Corcoran und all den anderen Gesellschaft? Ist es
(später)
Ich bin schon wieder dabei, immer und immer dasselbe durchzukauen, nichts Konstruktives zu tun, mich nur total verrückt zu machen. Ich zucke zusammen, wenn die Treppe zum Büchermagazin knarrt. Die Schatten da oben sind mir unheimlich. Ich ertappe mich bei dem Gedanken, wie ich wohl reagieren würde, wenn ich dort mit meinem gummibereiften Bücherwägelchen Bücher einsortierte und plötzlich zwischen zwei Regalen hindurch eine Hand zum Vorschein käme, eine Hand, die nach mir greifen wollte …
Heute Nachmittag überkam mich erneut das fast unwiderstehliche Verlangen, die anderen anzurufen. Ich habe sogar schon 404 gewählt, die Vorwahl von Atlanta; Stanley Uris’ Nummer lag vor mir. Dann presste ich nur den Hörer an mein Ohr und überlegte, ob ich sie anrufen wollte, weil ich mir wirklich sicher war – hundertprozentig sicher -, oder einfach deshalb, weil ich inzwischen solche Angst habe, dass ich mit jemandem sprechen muss, mit jemandem, der weiß (oder wissen wird ), weshalb ich so fürchterliche Angst habe.
Einen Moment lang konnte ich Richie sagen hören: Abzeichen? ABZEICHEN? Wirrr brrrauchen keine drrreckigen Abzeichen, senhorrr! Ich hörte seine Pancho-Vanilla-Stimme so klar und deutlich, als würde er neben mir stehen … woraufhin ich den Hörer wieder auf die Gabel legte. Wenn man jemanden so unbedingt sehen wollte wie ich Richie – oder überhaupt einen der anderen -, kann
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