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Es: Roman

Es: Roman

Titel: Es: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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man seinen eigenen Beweggründen nicht mehr trauen. Wir lügen am besten, wenn wir uns selbst belügen. Tatsache ist, dass ich mir immer noch nicht hundertprozentig sicher bin. Wenn noch eine Leiche aufgefunden werden sollte, werde ich sie anrufen … aber im Augenblick darf ich die Möglichkeit nicht ausschließen, dass sogar ein so großkotziges Arschloch wie Rademacher recht haben könnte, wenn auch nur rein zufällig. Laurie Ann könnte sich an ihren Vater erinnert haben; vielleicht hat sie Fotos von ihm gesehen. Und vermutlich könnte ein wortgewandter Erwachsener ein Kind überreden, in sein Auto zu steigen, auch wenn man dem Kind hundertmal erklärt hat, es dürfe so etwas niemals tun.
    Und da ist noch eine andere Angst, die mich verfolgt. Rademacher hat mir deutlich zu verstehen gegeben, dass er mich für verrückt hält oder doch zumindest auf dem besten Wege dazu, verrückt zu werden. Ich glaube das nicht, keineswegs, aber wenn ich sie jetzt anrufe, könnten sie ebenfalls glauben, ich sei verrückt. Ja, noch schlimmer, ich habe das schreckliche Gefühl, dass sie sich überhaupt nicht an mich erinnern würden. Mike Hanlon? Wer? Ich kenne keinen Mike Hanlon. Ich erinnere mich überhaupt nicht an Sie. Ein Versprechen? Was für ein Versprechen?
    Ich fühle, dass eines Tages die richtige Zeit kommen wird, um sie anzurufen … und wenn es so weit ist, werde ich wissen, dass es richtig ist. Ihre eigenen Schaltkreise werden sich zur selben Zeit öffnen. So, als kämen zwei große Räder ganz langsam in Konvergenz zueinander – ich und ganz Derry einerseits, die Freunde meiner Kindheit andererseits.
    Wenn die Zeit gekommen ist, werden sie die Stimme der Schildkröte hören.
    Deshalb werde ich abwarten, und früher oder später werde ich es wissen. Ich glaube nicht, dass es jetzt noch fraglich ist, ob ich sie anrufen soll oder nicht.
    Jetzt ist es nur noch die Frage des richtigen Zeitpunkts.

20. Februar 1985
     
    Das Feuer im Black Spot.
    »Ein perfektes Beispiel dafür, wie die Mächtigen versuchen, Geschichte umzuschreiben, Mike«, hätte der alte Albert Carson vermutlich krächzend gesagt. »Sie versuchen’s immer, und manchmal gelingt es ihnen fast … aber die Alten erinnern sich noch daran, wie es tatsächlich war. Und sie werden es dir erzählen, wenn du ihnen die richtigen Fragen stellst.«
    Es gibt Leute, die seit zwanzig Jahren in Derry wohnen und nicht wissen, dass es auf dem alten Militärstützpunkt von Derry früher einmal eine »spezielle« Kaserne für Unteroffiziere gab, eine Kaserne, die gute achthundert Meter vom übrigen Stützpunkt entfernt war – und Mitte Februar, wenn die Temperaturen minus zwanzig Grad erreichen konnten, wenn der Wind mit einer Geschwindigkeit von sechzig Kilometern pro Stunde über die ebenen Flugschneisen pfiff, wenn die gefühlte Temperatur weit, weit unter der tatsächlichen Temperatur lag, bedeuteten diese zusätzlichen achthundert Meter Frostbeulen, Erfrierungen, ja manchmal sogar den Tod.
    Die übrigen sieben Kasernen hatten Ölheizung und Doppelfenster und waren gut isoliert. Sie waren warm und gemütlich. Die »spezielle« Kaserne, in der die siebenundzwanzig Männer von Kompanie E untergebracht waren, wurde mit einem vorsintflutlichen Holzofen beheizt. Die Holzvorräte mussten größtenteils selbst beschafft werden. Die einzige Isolierung bestand aus den breiten Wällen aus Kiefern- und Fichtenstämmen, die die Männer um die Außenwände herum aufschichteten. Einer der Männer hatte eines Tages Doppelfenster organisiert, aber die siebenundzwanzig Bewohner der »speziellen« Kaserne wurden am gleichen Tag nach Bangor abkommandiert, um auf dem dortigen Stützpunkt zu helfen. Als sie abends müde und durchgefroren zurückkamen, waren alle Fenster eingeschlagen. Ausnahmslos alle.
    Das war im Jahre 1930, als Amerikas Luftwaffe noch zur Hälfte mit Doppeldeckern ausgerüstet gewesen war. In Washington war der hitzige Billy Mitchell zur Büroarbeit degradiert worden, weil sein beharrliches Drängen auf den Aufbau einer moderneren Luftwaffe seinen Vorgesetzten zu lästig geworden war. Kurze Zeit später schied er aus dem Dienst aus.
    Aus diesem Grund wurden auf dem Militärstützpunkt Derry sehr wenig Flüge durchgeführt, trotz der drei Startbahnen (eine davon war sogar geteert). Meistens wurden die Soldaten mit irgendwelchen Verlegenheitsarbeiten beschäftigt.
    Einer der Soldaten von Kompanie E war mein Vater gewesen, der nach dem Ende seines Dienstes 1937 nach Derry

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