Es: Roman
Ziehen – es war so, als rannte jemand damit. Mit weit aufgerissenen Augen und heruntergeklapptem Unterkiefer starrte sie auf das hinabsausende Band; sie hatte Angst, natürlich hatte sie Angst, aber sie war nicht überrascht. Hatte sie es nicht gewusst? Hatte sie nicht gewusst, dass irgend so was passieren würde?
Das Messband war jetzt völlig ausgezogen: Glatte sechs Meter.
Ein leises Kichern kam aus dem Ablauf, gefolgt von einem Flüstern, das fast vorwurfsvoll klang: »Beverly, Beverly, Beverly … du kannst uns nicht bekämpfen … du kannst uns nicht besiegen, du wirst hier mit uns fliegen … du kannst es gern probieren, es wird dich zu uns führen … du wirst sterben, Beverly … Beverly … Beverly … ly-ly-ly …«
Etwas klickte im Gehäuse des Messbands, und es begann sich schnell wieder aufzurollen; die Zahlen und Markierungen verschwammen. Die letzten zwei Meter war es nicht mehr gelb, sondern dunkelrot und nass, und sie schrie auf und ließ es fallen, als hätte es sich plötzlich in eine lebendige Schlange verwandelt.
Frisches Blut tropfte auf das saubere weiße Porzellanbecken und zurück ins große Auge des Abflusses. Weinend packte sie das Messband mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand. Sie trug es in die Küche. Blutstropfen markierten ihren Weg auf dem abgenutzten Linoleum des Flurs und der Küche.
Sie machte sich selbst Mut, indem sie daran dachte, was ihr Vater sagen würde – was er mit ihr tun würde -, wenn er bemerkte, dass sie sein Messband blutig gemacht hatte. Natürlich würde er das Blut nicht sehen können, aber der Gedanke an mögliche Folgen verlieh ihr jetzt Kraft.
Sie nahm einen der sauberen Lappen – er war noch warm wie frisches Brot von der Trockenschleuder – und kehrte ins Bad zurück. Als Erstes steckte sie den Gummistöpsel in den Ablauf, um dieses düstere Auge zu verschließen. Das frische Blut ließ sich leicht wegputzen. Sie folgte ihrer Spur und wischte die Blutstropfen auf dem alten Linoleum in Flur und Küche auf. Dann spülte sie den Lappen, wrang ihn aus und legte ihn beiseite.
Mit einem zweiten Lappen säuberte sie das Messband ihres Vaters. Das Blut war dick und klebrig. An zwei Stellen waren richtige Klumpen, schwarz und dick und schwammig.
Obwohl nur die ersten zwei Meter blutig waren, putzte sie das ganze Messband, beseitigte alle Spuren von Dreck und Unrat. Danach legte sie es ordentlich an seinen Platz im Schrank über der Spüle und trug die beiden schmutzigen Lappen zur Hintertür hinaus. Mrs. Doyon rief wieder nach Jim. Ihre Stimme gellte durch den stillen, heißen Spätnachmittag.
Im Hinterhof mit seinem Dreck, dem Unkraut und den Wäscheleinen stand ein rostiger Verbrennungsofen. Beverly warf die Lappen hinein, dann setzte sie sich auf die Hintertreppe. Plötzlich kamen ihr mit überraschender Heftigkeit die Tränen, und jetzt versuchte sie nicht, sie zurückzuhalten.
Sie legte die Arme um ihre Knie, verbarg den Kopf in ihnen und weinte, während Mrs. Doyon schrie, Jim solle sofort von der Straße weggehen – oder ob er vielleicht von einem Auto angefahren und getötet werden wolle?
Derry:
Das zweite Zwischenspiel
»Quaeque ipsa miserrima vidi,
Et quorum pars magna fui.«
VERGIL
»You don’t fuck around with the infinite.«
MEAN STREETS
14. Februar 1985 Valentinstag
Zwei weitere Vermisste in der vergangenen Woche – beides Kinder. Gerade als ich anfing, mich ein wenig zu entspannen. Bei den Vermissten handelt es sich um den sechzehnjährigen Dennis Torrio und um ein fünfjähriges Mädchen, das hinter seinem Elternhaus am West Broadway Schlitten fuhr. Die hysterische Mutter fand den Schlitten, eine dieser blauen fliegenden Untertassen aus Plastik, aber sonst nichts. In der Nacht zuvor hatte es frisch geschneit – etwa zehn Zentimeter hoch. Keine Spuren außer denen des Mädchens, sagte Chief Rademacher, als ich ihn anrief. Ich glaube, er hat allmählich von mir die Schnauze voll. Aber das wird mir bestimmt keine schlaflosen Nächte bereiten; mich hält weitaus Schlimmeres wach.
Ich habe ihn gefragt, ob ich die Polizeifotos sehen dürfte. Er hat abgelehnt.
Ich habe ihn gefragt, ob die Spuren des Mädchens zu einem Gully oder Abzugskanal führten. Nach langem Schweigen sagte Rademacher: »Ich frage mich allmählich, ob Sie nicht zum Arzt gehen sollten, Hanlon. Zu’nem Seelenklempner, meine ich. Die Kleine wurde von ihrem Vater entführt. Lesen Sie denn keine Zeitungen?«
»Wurde der Torrio-Junge
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