Es: Roman
Der Junge schwieg ein Weilchen, dann fuhr er fort: »Ich hatte zuerst ziemliche Angst. Ich bin nach Hause gerannt und hab’s meinem Vater erzählt, und er hat gemeint, es könnte ein Echo in den Rohren gewesen sein, das aus irgendeinem Haus gekommen ist.«
»Und – glaubst du das?«
Der Junge lächelte bezaubernd. »Ich hab in meinem Ob du’s glaubst oder nicht -Buch gelesen, dass es mal einen Mann gab, der mit seinen Zähnen Musik empfangen konnte. Radiomusik. Seine Plomben waren wie kleine Radios. Und wenn ich das geglaubt hab, kann ich vermutlich alles glauben.«
»J-Ja«, sagte Bill. »Aber hast du’s geglaubt?«
Widerwillig schüttelte der Junge den Kopf.
»Hast du diese Stimmen jemals wieder gehört?«, fragte Bill.
»Einmal, als ich gerade in der Badewanne saß«, antwortete der Junge. »Es war eine Mädchenstimme. Sie sagte nichts. Sie weinte nur. Ich hatte Angst, den Stöpsel rauszuziehen, als ich fertig war, weil ich dachte, ich könnte das Mädchen … na ja, wissen Sie, ertränken.«
Bill nickte wieder.
Der Junge schaute Bill jetzt offen und fasziniert mit leuchtenden Augen an. »Sie wissen alles darüber, ja?«, fragte er. »Sie haben diese Stimmen auch schon gehört?«
»Ja, ich habe sie gehört«, sagte Bill. »Vor langer, langer Zeit. Hast du irgendeins der K-Kinder gekannt, die hier ermordet worden sind, Kleiner?«
Die Augen des Jungen hörten auf zu leuchten und bekamen einen wachsamen, beunruhigten Ausdruck. »Mein Dad sagt, ich soll nicht mit Fremden reden«, antwortete er. »Er sagt, jeder könnte dieser Mörder sein.« Er wich vorsichtshalber einen Schritt zurück, in den Schatten einer Ulme, in die Bill vor siebenundzwanzig Jahren einmal mit seinem Fahrrad hineingerast war. Er war in hohem Bogen vom Rad geflogen und hatte die Lenkstange etwas verbogen.
»Ich nicht, Kleiner«, erklärte er. »Ich war in den letzten vier Monaten in England. Ich bin erst gestern nach Derry gekommen.«
»Ich sollte trotzdem nicht mit Ihnen reden«, sagte er.
»Du hast völlig recht«, stimmte Bill zu. »Das ist ein f-f-freies Land.«
Nach kurzem Schweigen sagte der Junge: »Ich hab oft mit Johnny Feury gespielt. Er war ein guter Freund. Ich hab geweint«, berichtete der Junge nüchtern und aß den Rest seines Wassereises auf. Bill konnte sehen, dass seine Zunge von dem Eis grellorange geworden war.
»Bleib weg von den Gullys und Abflussrohren«, sagte Bill ruhig. »Halte dich von einsamen Orten fern. Und vom alten Bahnhofsgelände. Aber in erster Linie – bleib weg von den Gullys und Abflussrohren.«
Die Augen des Jungen leuchteten wieder, und er schwieg lange Zeit. Schließlich sagte er: »Mister? Wollen Sie was Komisches hören?«
»Na klar.«
»Kennen Sie den Film, wo der Hai all die Leute auffrisst?«
»Klar«, sagte Bill. »Der Weiße Hai.«
»Na ja, ich hab’nen Freund, wissen Sie. Er heißt Tommy Vicananza, und er ist nicht der Hellste. Er hat sie nicht alle im Dachstübchen, verstehen Sie?«
»Ja.«
»Er glaubt, im Kanal diesen Hai gesehen zu haben. Er ist vor ein paar Wochen allein im Bassey Park gewesen, und er sagt, er hätte die Flosse gesehen. Zweieinhalb bis drei Meter groß soll sie gewesen sein. Nur die Flosse, wissen Sie. Und er sagt: ›Das war’s, was Johnny und die anderen Kinder umgebracht hat. Es war der Weiße Hai, ich weiß es, weil ich ihn gesehen habe.‹ Und ich sag ihm: ›Der Kanal ist so verdreckt, dass da drin überhaupt nichts leben könnte, noch nicht mal’ne Elritze. Und du behauptest,’nen Hai gesehen zu haben. Du hast nicht alle im Dachstübchen, Tommy‹, sag ich. Und Tommy sagt, der Hai wäre aus dem Wasser emporgeschossen wie am Ende des Films und hätte versucht, ihn zu beißen, und er hätte gerade noch rechtzeitig vom Rand zurückspringen können. Sehr komisch, finden Sie nicht auch, Mister?« Aber der Junge lächelte nicht.
»Sehr komisch«, stimmte Bill zu.
»Nicht alle im Dachstübchen, stimmt’s?«
Bill zögerte. »Halt dich auch vom Kanal fern, Junge. Verstehst du?«
»Sie glauben es?«
Bill zögerte wieder. Erst wollte er mit den Schultern zucken, aber dann nickte er.
Der Junge stieß pfeifend den Atem aus. Er senkte den Kopf, so als schämte er sich. »Ja, ich glaub’s auch«, sagte er. »Ich nehm an, ich hab sie nicht alle im Dachstübchen.«
»Ich verstehe, was du meinst«, sagte Bill und trat zu dem Jungen, der ihn ernst anschaute, aber diesmal nicht vor ihm zurückwich. »Du ruinierst mit diesem Skateboard deine Knie,
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