Es: Roman
aufgewachsen war, das in den Abwasser- und Kanalisationsrohren von einem Ort zum anderen kroch – das war ein furchterregender Gedanke, und der Gedanke, dieses Wesen tatsächlich zu bekämpfen, es mit ihm aufzunehmen, war noch furchterregender … aber das hier war irgendwie schlimmer. Wie konnte man sich gegen einen Erwachsenen wehren, der sagte, es würde nicht wehtun, obwohl man genau wusste, es würde doch wehtun? Wie konnte man sich gegen einen Erwachsenen wehren, der einem komische Fragen stellte und geheimnisvolle Sachen sagte wie: Das geht jetzt lange genug so?
Fast müßig, wie ein beiläufiger Gedanke, eröffnete sich Eddie eine der Wahrheiten der Kindheit: Erwachsene sind die wahren Ungeheuer, dachte er. Es war nichts Großartiges, kein Gedanke, der wie eine Offenbarung kam oder sich mit Pauken und Trompeten ankündigte. Er kam und ging und verschwand unter dem alles beherrschenden Gedanken: Ich will mein Asthma-Spray, und ich will hier raus.
»Entspann dich doch«, sagte Mr. Keene wieder. »Deine Beschwerden kommen größtenteils daher, dass du immer so angespannt, so verkrampft bist. Nimm nur mal beispielsweise dein Asthma. Sieh mal.«
Mr. Keene öffnete seine Schreibtischschublade, kramte darin herum und brachte zu Eddies größtem Erstaunen einen Luftballon zum Vorschein. Er holte tief Luft – so tief, wie seine schmale Brust es erlaubte – und blies ihn auf, während seine Krawatte dabei auf und ab wippte wie ein kleines Boot auf einer Welle. CENTER STREET DRUGSTORE stand darauf. Mr. Keene verknotete den Ballonhals und hielt den Ballon Eddie vor die Nase. »Stellen wir uns jetzt mal vor, dieser Ballon wäre eine Lunge«, sagte er. » Deine Lunge. Natürlich müsste ich eigentlich zwei davon aufblasen, aber ich habe nur noch diesen einen, der vom Sonderverkauf nach Weihnachten übrig geblieben ist …«
»Mr. Keene, könnte ich bitte mein Asthma-Spray haben?«, keuchte Eddie. Sein Kopf dröhnte. Er spürte, wie seine Luftröhre sich immer mehr verengte. Er hatte rasendes Herzklopfen, und Schweißperlen traten ihm auf die Stirn. Sein Eiscremesoda stand vergessen auf der Ecke von Mr. Keenes Schreibtisch, die Kirsche auf der Sahne versank langsam darin.
»Gleich«, sagte Mr. Keene. »Pass jetzt erst mal gut auf, Eddie. Ich möchte dir helfen. Es ist nämlich höchste Zeit, dass es jemand tut. Und wenn Russ Handor nicht Manns genug ist, so muss ich das eben übernehmen. Deine Lunge ist wie dieser Ballon, nur ist sie von einer Muskelhülle umgeben – dem Diaphragma oder Zwerchfell. Diese Muskeln sind wie die Arme eines Mannes, der einen Blasebalg bedient, verstehst du? Bei einem normalen, gesunden Menschen hilft das Zwerchfell der Lunge, sich mühelos zusammenzuziehen und auszudehnen. Wenn aber der Besitzer dieser Lunge – dieser gesunden Lunge – sich immer verkrampft, beginnt das Zwerchfell gegen die Lunge anstatt mit ihr zu arbeiten. Etwa so!«
Mr. Keene presste den Ballon mit seiner schwieligen, mageren, leberfleckigen Hand zusammen. Eddie sah, wie der Ballon sich über und unter der Faust auswölbte und machte sich auf den scheinbar unvermeidlichen Knall gefasst. Gleichzeitig spürte er, dass er überhaupt keine Luft mehr bekam. Er beugte sich vor und griff nach seinem Asthma-Spray auf der Schreibunterlage. Dabei streifte er mit der Schulter das schwere Sodaglas. Es fiel vom Schreibtisch und zerschellte mit lautem Klirren auf dem Fußboden.
Eddie nahm das nur verschwommen wahr. Er schob sich das Asthma-Spray in den Mund und drückte auf die Flasche. Er inhalierte gierig, und seine Gedanken rasten in wilder Panik, wie immer in solchen Momenten: Bitte, Mama, ich ersticke, ich kann nicht ATMEN; o lieber Gott, o lieber Jesus sanftundmild, ich kann nicht ATMEN, bitte, ich will nicht sterben, will nicht sterben, o bitte …
Dann kondensierte sich der nach Medizin schmeckende Nebel aus dem Spray auf den geschwollenen Wänden seines Halses, und er konnte wieder atmen.
»Es tut mir leid«, stammelte er fast weinend. »Es tut mir leid … ich werde das Glas bezahlen und alles aufwischen … nur sagen Sie meiner Mutter nichts davon, bitte! Es tut mir so leid, Mr. Keene, aber ich konnte nicht atmen …«
Wieder klopfte es an der Tür, und Ruby steckte ihren Kopf herein. »Ist alles …«
»Alles in Ordnung«, sagte Mr. Keene scharf. »Lass uns allein.«
»Hmm!«, gab Ruby von sich, verdrehte die Augen und schloss die Tür.
Eddies Atem wurde wieder pfeifend, und er nahm noch einmal sein
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