Es: Roman
…«
»Los! Auch wenn’s wehtut – du hast es lang genug in dich hineingefressen, Bev. Sag’s!«
»Ich habe meinen Vater gehasst!«, sagte sie und begann hilflos zu schluchzen. »Ich hasste ihn, ich hatte Angst vor ihm, ich hasste ihn … Ich konnte nie so brav und lieb sein, wie er mich haben wollte, und ich hasste ihn, o ja, aber ich liebte ihn auch, ich liebte ihn, und ich hasste ihn …«
Bill blieb stehen und hielt sie fest. Sie schlang wild ihre Arme um ihn wie eine Ertrinkende und weinte heftig an seiner Schulter. Die Nähe ihres Körpers erregte ihn, und er rückte ein wenig von ihr ab, weil er nicht wollte, dass sie seine Erektion spürte … aber sie schmiegte sich wieder fest an ihn.
»Wir hatten den Morgen in den Barrens verbracht«, schluchzte sie, »und Fangen gespielt oder so was. Irgendwas völlig Harmloses. Wir hatten an jenem Tag nicht einmal über Es gesprochen, zumindest noch nicht … normalerweise sind wir damals jeden Tag irgendwann auf Es zu sprechen gekommen, weißt du noch?«
»O ja«, sagte er, »ich erinnere mich daran.«
»Es war bewölkt … heiß. Wir hatten fast den ganzen Vormittag gespielt. So gegen halb zwölf bin ich dann nach Hause gegangen. Ich wollte duschen und ein bisschen was essen, ein Sandwich oder einen Teller Suppe. Und dann wollte ich wieder zum Spielen in die Barrens zurück. Meine Eltern arbeiteten beide. Aber er war zu Hause. Er war da, und er
2
Lower Main Street, 11.30 Uhr
schleuderte sie quer durchs Zimmer, ehe sie überhaupt wusste, wie ihr geschah. Sie stieß einen leisen Schrei aus, prallte mit einer Schulter gegen die Wand, und der Schmerz raubte ihr für Sekunden den Atem. Sie ließ sich auf das alte, durchgesessene Sofa fallen und sah sich verstört um. Die Tür zum Flur wurde laut zugeschlagen. Ihr Vater hatte hinter dieser Tür gestanden.
»Ich mache mir Sorgen um dich, Bevvie«, sagte er. »Manchmal mache ich mir große Sorgen um dich. Schreckliche Sorgen. Das weißt du genau. Ich hab’s dir oft genug gesagt, nicht wahr? Oder etwa nicht?«
»Daddy, was …«
Er durchquerte das Wohnzimmer, kam langsam auf sie zu; sein Gesicht wirkte besorgt, traurig und irgendwie tödlich. Sie wollte diesen letzten Ausdruck nicht wahrhaben, aber ebenso wie eine Schmutzschliere auf stillem Wasser nicht zu übersehen ist, war auch dieser Ausdruck nur allzu präsent. Nachdenklich nagte er an den Knöcheln seiner rechten Hand. Er trug seine graue Arbeitskleidung, und sie sah, dass seine Stiefel auf dem Teppich Schmutzspuren hinterließen. Ich werde den Staubsauger rausholen müssen, dachte sie verworren. Staubsaugen. Wenn ich nachher überhaupt noch dazu imstande bin. Wenn er mich nicht …
Es war Schlamm. Schwarzer Schlamm. In ihrem Gehirn ertönte ein Warnsignal. Sie war wieder in den Barrens mit Bill, Richie, Eddie und den anderen. Unten in den Barrens gab es solchen zähen, schwarzen Schlamm, wie er jetzt an Daddys Schuhen klebte. An jener sumpfigen Stelle, wo das Zeug, das Richie »Bambus« nannte, ein etwas unheimliches, weißes, skelettartiges Gehölz bildete. Und wenn Wind ging, schlugen die Gewächse mit hohlem Klang gegeneinander wie Voodoo-Trommeln. War ihr Vater etwa unten in den Barrens gewesen? Hatte ihr Vater …
KLATSCH!
Er hatte weit ausgeholt und ihr ins Gesicht geschlagen. Ihr Kopf prallte gegen die Wand. Er schob seine Daumen in den Gürtel und betrachtete sie mit diesem Ausdruck tödlicher und zugleich teilnahmsloser Neugierde. Sie spürte, wie warmes Blut ihr aus dem linken Winkel der Unterlippe das Kinn hinabrann.
»Ich habe dich heranwachsen sehen«, sagte er, und sie dachte, er würde weiterreden, aber er verstummte wieder.
»Daddy, wovon redest du?«, fragte sie schließlich mit leiser, zitternder Stimme.
»Wenn du mich anlügst, schlag ich dich halb tot, Bevvie«, sagte er, und sie registrierte entsetzt, dass er sie dabei nicht einmal ansah, sondern das Bild von Currier und Ives an der Wand über dem Sofa betrachtete. Und absurderweise drängte sich ihr plötzlich eine Szene auf: Sie war vier Jahre alt und saß mit ihrer Popeye-Kinderseife und ihrem blauen Plastikboot in der Badewanne; ihr so großer, starker, über alles geliebter Vater, der an jenem Tag eine alte graue Hose und ein weißes Unterhemd trug, kniete neben ihr; in einer Hand hatte er einen Waschlappen, mit dem er ihr den Rücken einseifte, in der anderen ein Glas Orangenlimonade, und er sagte: Lass mich mal deine Ohren sehen, Bevvie, deine Mutter braucht
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