Es: Roman
Wohnung im ersten Stock, Stecknadeln im Mund, ein Kleid auf dem Schoß, während zahlreiche weitere ausbesserungsbedürftige Kleidungsstücke ihrer sechs Töchter in einem Korb auf dem Boden lagen. Der kleine Lars Theramenius zog seinen Red-Ball-Flyer-Bollerwagen rasch vom Gehweg auf Bucky Pasquales ungepflegten Rasen und brach in Tränen aus, als Bevvie schreiend und weinend, mit schreckensweit aufgerissenen Augen, an ihm vorbeirannte. Sie hatte ihm im Frühling einen ganzen Vormittag lang geduldig gezeigt, wie man Schnürsenkel so bindet, dass sie nicht gleich wieder aufgehen. Einen Augenblick später rannte auch ihr brüllender Vater an ihm vorbei, und Lars, der damals drei Jahre alt war und zwölf Jahre später bei einem Motorradunfall ums Leben kam, sah etwas Schreckliches und Unmenschliches in Mr. Marshs Gesicht. Er hatte danach drei Wochen lang Albträume, in denen er sah, wie Mr. Marsh sich unter seinen Kleidern in eine Spinne verwandelte.
Beverly rannte. Sie wusste genau, dass sie um ihr Leben rannte. Wenn sie ihrem Vater jetzt in die Hände fiel, würde es ihr auch nichts nutzen, dass sie auf der Straße waren. Die Leute in Derry taten manchmal verrückte Dinge; sie brauchte nicht die Zeitungen zu lesen oder die eigenartige Geschichte der Stadt zu kennen, um das zu begreifen. Wenn er sie erwischte, würde er sie erwürgen oder sie zu Tode prügeln. Und wenn dann alles vorüber sein würde, würde jemand kommen und ihn verhaften, und er würde in einer Gefängniszelle sitzen, so wie auch Eddie Corcorans Stiefvater irgendwo in einer Gefängniszelle saß, völlig verwirrt und fassungslos über seine eigene Tat.
Und deshalb rannte sie. Je näher sie der Innenstadt kamen, desto mehr Leute waren auf den Straßen, die sich zuerst nach ihr und dann nach ihrem Vater umdrehten. Sie schauten – überrascht, manche auch erschrocken -, und dann wandten sie sich teilnahmslos wieder ab. Beverly atmete jetzt schon ziemlich schwer, und sie hatte heftiges Seitenstechen.
Sie überquerte den Kanal auf dem Zementweg, während rechts von ihr Autos über die schweren Holzplanken der Brücke rumpelten. Links konnte sie den steinernen Halbkreis sehen, wo der Kanal unter der Erde verschwand. Sie stürzte plötzlich quer über die Main Street, ohne auf den Verkehr, auf Hupen und quietschende Bremsen zu achten. Sie kreuzte die Straße schräg nach rechts, weil die Barrens in dieser Richtung lagen. Bis dorthin war es noch über einen Kilometer, und sie würde ihren Vater auf dem steilen Up-Mile Hill irgendwie abhängen müssen (oder auf einer der noch steileren Parallelstraßen), wenn sie in die Barrens gelangen wollte. Sie waren der einzige Zufluchtsort, der ihr einfiel.
»KOMM HER, DU KLEINES LUDER, ICH WARNE DICH!«
Auf dem Gehweg der anderen Straßenseite angelangt, warf sie mit wehenden Haaren wieder einen Blick zurück. Ihr Vater überquerte die Main Street mit hochrotem, schweißüberströmtem Gesicht, wobei er ebenso wenig auf den Verkehr achtete wie sie selbst.
Sie bog plötzlich in eine Gasse ein, die hinter den Gebäuden verlief, die auf den Up-Mile Hill hinausgingen: Star Beef, Armour Meatpacking, Hemphill Storage & Warehousing, Eagle Beef & Kosher Meats – Lagerhäuser und Großschlächtereien. Die Gasse war schmal, hatte Kopfsteinpflaster und war von Mülltonnen und -containern gesäumt. Das Pflaster war glitschig von Abfällen aller Art. Es stank nach Fleisch und Schlachthaus. Es wimmelte nur so von Fliegen. Aus einigen Gebäuden hörte sie Maschinen und das grässliche Kreischen von Knochensägen. Sie rutschte auf dem glitschigen Kopfsteinpflaster aus und streifte mit der Hüfte eine Mülltonne; in Zeitungspapier eingewickelte Eingeweide fielen heraus.
»KOMM JETZT ENDLICH HER, BEVVIE! ICH SAG’S DIR ZUM LETZTEN MAL! MACH ES NICHT NOCH SCHLIMMER, ALS ES OHNEHIN SCHON IST, MÄDCHEN!«
Zwei Männer standen auf der Schwelle des Fleischabpackbetriebs Kirshner Packing Works und aßen große Sandwiches aus ihren Lunchtüten, ohne sich vom Gestank und von den Fliegen auch nur im Geringsten stören zu lassen. »Na, Mädchen«, rief einer von ihnen, »sieht ganz so aus, als würdest du mit deinem Pa bald in den Holzschuppen gehen und ordentlich was abkriegen.« Der andere Mann lachte.
Ja, ihr Vater holte auf. Sie hörte seine donnernden Schritte auf dem Kopfsteinpflaster, hörte seinen keuchenden Atem dicht hinter sich; rechts konnte sie seinen schwarzen Schatten an dem hohen Bretterzaun entlangfliegen sehen.
Dann
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