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Es: Roman

Es: Roman

Titel: Es: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Fingernägel, die gepflegt aber erschreckend kurz waren. Letzteres war Tom schon bei ihrer ersten Begegnung aufgefallen. Als sie ein Glas Weißwein in die Hand nahm, dachte er beim Anblick ihrer Fingernägel: Sie schneidet sie so kurz, weil sie an den Nägeln kaut.
    Löwen denken nicht, zumindest nicht in der Art, wie Menschen es tun … aber Löwen haben scharfe Augen. Und wenn die Antilopen sich, aufgeschreckt durch den Geruch des nahenden Todes, von der Wasserstelle entfernen, können die Großkatzen sehen, welche Antilope ein Stück weit hinter den anderen zurückbleibt. Vielleicht weil sie lahmt, vielleicht weil sie von Natur aus langsamer ist … oder weil ihr Instinkt für Gefahren nicht so stark ausgeprägt ist. Möglicherweise wollten manche Antilopen – und manche Frauen – aber insgeheim auch erlegt werden.
    Eines brachte ihn aus seinen Erinnerungen abrupt in die Realität zurück: das vertraute Klicken ihres Feuerzeugs.
    Erneut stieg dumpfer Zorn in ihm auf und füllte seinen Magen mit einer Hitze, die ihm nicht unangenehm war. Sie rauchte! Er hatte ihr bereits ein paar von Tom Rogans »Spezialseminaren« zu diesem Thema angedeihen lassen, und trotzdem tat sie es wieder. Sie lernte wirklich langsam, okay, aber ein Lehrer war dann gut, wenn er auch seinen langsamen Schülern etwas beibringen konnte.
    »Ja«, sagte sie gerade. »In Ordnung. Ja …« Sie lauschte, dann stieß sie ein sonderbares, abgerissenes Lachen aus, das er noch nie zuvor bei ihr gehört hatte. »Zwei Dinge, wenn du schon fragst: Reservier mir ein Zimmer, und sprich ein Gebet für mich. Ja, okay … a-ha … ich auch. Gute Nacht.«
    Sie hatte gerade aufgelegt, als er hereinkam. Er wollte sie anbrüllen, die Zigarette gefälligst auszumachen, sie jetzt auszumachen, SOFORT, aber die Worte blieben ihm im Hals stecken. Er hatte sie nur zwei- oder dreimal so gesehen – einmal vor der ersten Modenschau, einmal vor der ersten großen Modenschau mit Einkäufern von den größten Firmen des Landes, und einmal, als sie zu den International Design Awards nach New York geflogen waren.
    Sie bewegte sich mit langen Schritten durch das Schlafzimmer; das weiße Spitzennachthemd schmiegte sich an ihren Körper, sie hatte eine Zigarette im Mund (verdammt, er hasste es, wie sie aussah, wenn sie rauchte!), und eine dünne Rauchschwade bewegte sich über ihre linke Schulter wie der Rauch aus einer Lokomotive.
    Aber es war ihr Gesicht, das ihn zum Schweigen brachte, das ihm die Worte auf der Zunge ersterben ließ. Sein Herz machte einen Satz – da-BUMM! - und er zuckte zusammen und redete sich sogleich ein, dass es nicht Furcht war, die er verspürte, sondern Überraschung, sie so zu sehen.
    Sie war eine Frau, die nur dann richtig zum Leben erwachte, wenn sich ihre Arbeit einem Höhepunkt näherte. Jeder dieser erinnerungswürdigen Momente war beruflicher Natur gewesen, und er hatte dann eine völlig andere Frau erlebt als die, die er kannte – eine Frau, die sein empfindsames Furchtradar mit wildem Rauschen lahmlegte. Jene Frau, die in solchen Stresssituationen zum Vorschein kam, war stark, aber nervös, war furchtlos, aber unberechenbar.
    Jetzt hatten ihre Wangen Farbe, ihre Augen waren groß und strahlend; jede Spur von Schläfrigkeit war aus ihnen gewichen. Ihre Haare wehten. Und … was sehen wir denn da, liebe Freunde und Nachbarn? Was sehen wir denn da? Holt sie wirklich einen Koffer aus dem Schrank? Einen Koffer? Bei Gott, sie tut es wirklich!
    Reservier mir ein Zimmer … sprich ein Gebet für mich …
    Nun, sie würde kein Hotelzimmer brauchen, jedenfalls nicht in absehbarer Zukunft. Weil die kleine Beverly Rogan nämlich hier zu Hause bleiben würde, herzlichen Dank, und sie würde die nächsten drei oder vier Tage ihre Mahlzeiten im Stehen einnehmen.
    Aber bis er mit ihr fertig war, konnte sie sicher ein oder zwei Gebete vertragen.
    Sie stellte den Koffer auf dem Fußende des Bettes ab und ging dann zu ihrer Kommode, öffnete die obere Schublade, zog zwei Jeans und eine Cordhose heraus und warf sie in den Koffer. Sie ging zurück zur Kommode, während Zigarettenrauch über ihre Schulter emporqualmte, nahm einen Sweater heraus, ein paar T-Shirts und eine alte Marinebluse, in der sie einfach nur dämlich aussah, die sie aber nicht wegwerfen wollte. Wer auch immer sie angerufen hatte, es konnte kein Jet-Setter gewesen sein. Die Klamotten waren hausbacken und altmodisch.
    Nicht dass er sich darum scherte, wer sie angerufen hatte oder wo sie

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